280 Frankreich während des dritten Kriegshalbjahres
„Ich muß mich entschuldigen," erklärte er, „daß ich das Wort ergreife, obwohl noch zahlreiche
Kollegen in die Rednerliste eingeschrieben sind. Ich habe aber Eile, mich über die Tatsachen, die
vorgebracht worden sind, auszusprechen. Vor acht Tagen, bei der Besprechung des Sanitätsdienstes,
hat man dem Kriegsminister den Prozeß gemacht. Hierüber muß ich mich erklären. Die Sorge um meine
Würde sowie das öffentliche Interesse gebieten es. Wenn man gewissen Rednern glauben wollte,
wären seit dem Tage, an dem ich die schwere Bürde des Kriegsministeriums auf mich geladen, nur
Nachlässigkeiten und Fehler begangen worden, hätte Sorglosigkeit geherrscht. Ich soll alles haben ge
schehen lassen, ohne irgend welche Sanktionen vorzunehmen, ich soll der Gefangene meiner Bureaus
gewesen sein, soll vor dem Oberkommando auf die Ausübung meiner Prärogative und Rechte verzichtet
haben. Das sind die Sünden, die man gegen mich ins Gericht führt.
Ich will darauf mit Mäßigkeit antworten, ohne etwas zu sagen, das die Leidenschaften erregen
könnte. Um das zu tun, brauche ich nur, wie ich es seit zwei Jahren getan, an die zu denken,
die kämpfen, leiden und sterben. (Beifall auf allen Bänken, außer bei den Radikalsozialisten und
Radikalen.) Seit acht Monaten habe ich zu wiederholten Malen Gelegenheit gehabt, sei es in der
Kammer, sei es im Senat, auf die Ergebnisse hinzuweisen, die durch das Hand-in-Handarbeiten
der französischen Industrie mit den verschiedenen Zweigen des Kriegsbetriebes erzielt wurden. Be
züglich dieses Punktes genügt es mir, heute hervorzuheben, daß das Vertrauen, das wir hatten, in
reicher Weise gerechtfertigt wurde. Wir haben mehr erhalten als wir forderten und können heute
von der Munitionskrise der 75er Geschütze wie von einem schlechten Traum sprechen. Der Ver
pflegungsdienst läßt nichts mehr zu wünschen übrig. Die Bedürfnisse der Armee wachsen von Tag
zu Tag; immer neue kommen hinzu, unsere Wachsamkeit muß immer angestrengt bleiben. Toujours
cPavantage, toujours mieux, das ist unsere Sorge. Wir wären nicht dahin gelangt, wenn sich nicht
alle Betriebe von Kriegsbeginn an ihrer überwältigend großen Aufgabe mit Eifer unterzogen hätten.
(Protestrufe auf der äußersten Linken und der Linken.) Mit großem Vertrauen können wir in die
Zukunft schauen; dazu berechtigt uns die Gegenwart.
Wie ich schon sagte, sind tatsächliche Fortschritte erzielt worden; warum sollte da gerade der
Sanitätsdienst eine Ausnahme machen? Ohne auf alle Tatsachen zu antworten, möchte ich eine
ziemlich präzise Gesamtantwort geben: Die Kriegserklärung überraschte unseren Sanitätsdienst in
voller Umwandlung. Nur zehn Armeekorps waren mit neuem Material versehen. Wir stießen auf
zahllose Schwierigkeiten. Aber heute sind wir allen Anforderungen gewachsen. Seit 1913 waren
250000 Betten vorgesehen, jetzt haben wir 600000. Augenblicklich wird täglich Verbandmaterial
für 50000 Verbände hergestellt. Die Frage der Fortschaffung der Verwundeten beschäftigt uns ganz
besonders. In den ersten vierzehn Tagen des Krieges wurden 110 Züge gebildet, gegenwärtig ver
fügen wir über 170 Züge und 1900 Automobile für den Sanitätsdienst."
Nach weiteren Erklärungen kam der Kriegsminister auf die Umstände zu sprechen, unter denen er
sich vom Direktor des Sanitätsdienstes, Dr. Troussaint, trennen mußte. „Als der Unterstaatssekretär
Godard mir sagte, er sehe die Notwendigkeit nicht ein, an seiner Seite einen Sanitätsdirektor zu
haben, antwortete ich ihm: Gut, dann werden wir die Talente und die Kompetenz Dr. Troussaints
anderweitig verwenden! (Lebhafte Protestrufe.) Ich kann die mir von meinen.Mitarbeitern gemachten
Dienste nicht verkennen, auch wenn einmal hier und da Vorwürfe gegen sie erhoben wurden. Wer
könnte wohl von sich sagen, daß er keine Irrtümer begangen habe? Ich bemühe mich, für alle ein
gerechter Chef zu sein. Aber ich bin niemandes Sklave! Sie kennen die Legende, jetzt sollen sie auch
die Wirklichkeit erfahren. Seit Oktober 1914 habe ich fast alle Chefs im Kriegsministerium gewechselt."
Die Linke protestiert heftig. Viele Deputierte erheben sich. Der Abgeordnete Albert Favre über
häuft den Kriegsminister mit Beleidigungen. Dalbiez gerät aus dem Häuschen. Man ruft ihm von
der Rechten zu: Gehen Sie doch an die Front! Der Präsident Deschanel schwingt die Glocke.
„Achten Sie das Diskussionsrecht," ruft er, „darauf beruht das Prinzip der Republik!"
Nachdem die Ruhe wieder hergestellt ist, fährt Millerand fort: „Ich komme jetzt zum Hauptvorwurf,
der mir gemacht wird. Ich soll mich angeblich ganz in die Hände des Oberkommandos begeben
haben. Wenn ein Land das Glück hat, an der Spitze seines Heeres einen Führer von unbedingter
Loyalität zu besitzen (Beifallsstürme), ist es da nicht die Pflicht des Kriegsministers, mit diesem
Führer nicht allein vertrauensvolle, sondern auch herzliche Beziehungen zu unterhalten? Das wird
mir um so leichter fallen, als ich General Joffre während eines Jahres zum Mitarbeiter hatte, was
die Ausübung der Autorität und der Kontrolle erleichtert, auf die ich nicht verzichten könnte, ohne