Volltext: Der Völkerkrieg Band 6 (6 / 1916)

Belgien während des dritten 
Kriegshalbjahres 
Von Anfang August 1915 bis Mitte Februar 1916 
Fortsetzung von Band VII, Seiten 257 bis 262 
Die Belgier und der Krieg 
Die gemeinsame Erklärung der Gesandten Englands, Frankreichs und Rußlands in 
Sainte-Adresse Mitte Februar 1916, durch die Belgien aufs neue seine Unabhängigkeit garan 
tiert wurde (vgl. S. 260), ist von den Belgiern selbst sehr verschiedentlich aufgenommen und 
beurteilt worden. Um das zu verstehen muß man, wie der „Neuen Zürcher Zeitung" 
(29. II. 1916) aus Amsterdam geschrieben wurde, „scharf zwischen der Gemüts- und Geistes 
verfassung der belgischen Flüchtlinge und der Gesinnung und Stimmung der im besetzten 
Lande verbliebenen Belgier unterscheiden. In der Vaterlandsliebe und in der Abnei 
gung gegen den fremden Eroberer sind sie sich alle gleich; aber die Leiden, die sie durch 
den Krieg zu tragen haben, verteilen sich keineswegs in gleicher Weise auf alle Schul 
tern, und daraus allein erklärt sich die Verschiedenheit des Denkens und der Abschätzung 
der Kriegsereignisse und der daraus erwachsenden politischen Lage. 
Nach zuverlässigen Angaben befanden sich noch Anfang 1916 trotz der erheblichen Rück 
wanderung in die Heimat 80000 flüchtige Belgier in Holland, 225000 in England, 250000 
in Frankreich. Man wird ihre Gesamtzahl mit Einrechnung verschiedener nicht angemeldeter 
Landesgenossen aus rund 600000 schätzen dürfen. Im Vergleich zu den sieben Mil 
lionen Belgiern, die im Heimatlande allen Beschwerden der Fremdherrschaft trotzen, 
bilden die Flüchtlinge also nur eine kleine Minderheit, aber diese Minderheit beeinflußt 
zweifellos den König Albert und seine Regierung in Havre weit mehr, als man dies 
von der erdrückenden belgischen Volksmehrheit im Lande sagen kann. Die letztere ist in 
ihrer Willensäußerung gelähmt. Sie verfügt über keine freie Presse; denn die Organe 
der öffentlichen Meinung, die in Belgien erscheinen, stehen unter der deutschen Zensur. 
Die Flüchtlinge aber bewegen sich frei. Ihre Delegierten reisen von einem Lande zum 
andern und wirken durch persönliche Aussprachen und Vorstellungen auf die Entschlüsse 
des Ministeriums de Broqueoille ein. Darin werden sie von der Flüchtlingspresse 
kräftig unterstützt. Wer deren tägliche Erzeugnisse liest, wird ihr übrigens kaum den 
Namen einer wirklichen Presse zuerkennen. Es handelt sich dabei vielmehr um täglich 
erscheinende Flugschriften, die den ausgesprochenen Charakter deutschfeindlicher Pam 
phlete tragen. Der Nachrichtenteil bildet nichts weiter als eine Zusammenstellung aller 
irgendwo aufzutreibenden Meldungen, welche die Deutschen verächtlich zu machen ge 
eignet sind. Dabei herrscht ein Ton und eine Ausdrucksweise, die man nur erschreckend 
nennen kann, weil sie die Aussicht auf eine Zukunft des furchtbarsten Völkerhaffes er 
öffnet. Diese Zeitungen machen die öffentliche Meinung der Flüchtlinge, sie fordern stets 
die Fortsetzung des Kampfes, den Beitritt Belgiens zum Londoner Separatfriedens 
vertrag und die Verwerfung aller Versuche zu einem Ausgleiche des Völkerringens. 
Daraus ergibt sich die Haltung der belgischen Flüchtlinge von selbst: von der Flüchtlings 
presse beeinflußt, betrachten sie jede Verständigungsmöglichkeit mit den Deutschen als Verrat. 
Ganz anders denkt die erdrückende belgische Volksmehrheit, die im besetzten Lande 
wohnt. Aus ihren Schultern lasten, trotz aller fürsorglichen Rücksichtnahme des deutschen 
Generalgouverneurs, die eigentlichen Kriegsfolgen. Da ist es sehr begreiflich, daß die
	        
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