230 Die Ereignisse an der We st front im dritten Kriegshalbjahr
Vom belgischen Heer
Das Organ der marxistischen Partei Hollands, die „Tribune", veröffentlichte einen
vom 1. August 1915 datierten Bries eines an der Usersront stehenden belgischen Sol
daten und Sozialisten, in dem nach der Wiedergabe der „Berner Tagwacht" (4. IL. 15)
folgendes zu lesen ist: „Was die Geistesverfassung unserer (der belgischen) Soldaten
anlangt, so ist ste den Umständen entsprechend in militärischer Hinsicht soweit nicht allzu
schlecht zu nennen, da doch bis jetzt die Mehrheit immer noch nach den Laufgräben marschiert.
Doch obwohl viele bereits erschossen worden sind, erhöht sich die Zahl der Weigerungen,
vor allem bei den Regimentern, die die schlechtesten Abschnitte in dem Belagerungskrieg
zu halten haben. Zugleich ist bemerkenswert, daß die Grenadierregimenter, vor denen
wir als Antimilitaristen vor dem Kriege die meiste Furcht hatten, daß ste unsere aktiven
Bewegungen (Streiks, Demonstrationen) in Blut ersticken würden, wie umgekrempelt
sind: Da kamen die Weigerungen massenhaft vor (besonders bei den sogenannten Kriegs
freiwilligen und den Rekruten). Den Abschnitt von Dixmuiden hielten sie nach der
großen Schlacht an der Äser bis Februar 1915, beinahe ohne einen Schuß abzugeben.
Sie drängten selbst indirekt daraus hin, daß auch die Artillerie weniger feuern sollte-
Im Februar 1915 war Ablösung durch die dem belgischen Militarismus treu er
gebene 5. Division, 2. und 3. Jäger zu Fuß und das 1. Linienregiment. Aber dann
begann das „Spiel": Offiziere, in ihrem Eifer, dem Hauptquartier zu Diensten zu
sein, die Soldaten schlaff die Befehle ausführend — ein gewaltiges „Streben", aber häufige
Todesfälle. Dies letztere so sehr, daß man bei der „Elitetruppe" der Jäger so starke
Weigerung fand, noch nach der Feuerlinie zu gehen, daß selbst einige Erschießungen, Strafen
und anderes nichts fruchteten. Sie schickten eine große Anzahl von Offizieren nach der
anderen Welt, wofür man beinahe 200 Soldaten festnahm und in „Ruhestellung" schickte,
um die „Moral" etwas zu verbessern. Beim 1. Linienregiment fielen keine Offiziere,
ergaben sich aber zahlreiche Soldaten den Deutschen.
Die 2. Division hielt den Abschnitt rechts von Dixmuiden bis Knocke besetzt. Sie
besteht aus dem 5., 6. und 7. Linienregiment. Das letztere, das vor sechs Wochen den
am wenigsten guten Teil angewiesen bekam, weigerte sich, diesen zu beziehen. „Ruhe"
war die Losung. Und die schärfste Losung, die in wenigen Fällen vorkam (unter den
Rekruten) war: nicht mehr kämpfen! Wieder mußte abgelöst werden.
Das Gewitter brach los beim 5. Regiment. Es weigerte sich, zu marschieren. Zum
Schluß plötzlich der Befehl, sich zurückzuziehen. Hier waren es keine Rekruten, sondern
ältere Mannschaften. Viele Verurteilungen folgten vor dem Kriegsgericht. Bei den Kara
binieren mit den Grenadieren in der 6. Division ebenso zahlreiche Dienstverweigerungen.
Viele schießen sich selbst Kugeln in den Kopf. Bei einem solchen Fall war ich anwesend!
Natürlich Kriegsgericht und Verurteilung an der Tagesordnung.
In der 3. Division, der sogenannt am „glänzendsten" sich schlagenden „unseres" Heeres,
mit ihrem 9., 11. und 12. Regiment und den 1. und 4. Jägern zu Fuß, hat sich das
9. Regiment nicht weniger ausgezeichnet. Doch gibt es auch hier so viele Dienstverweigerungen,
daß säst kein einziger ungestraft bleibt. Man fürchtet selbst, die einmal Gestraften noch
zurückzuhalten, da es sicher ist, daß binnen einem Monat der übergroße Teil stärker
gestraft, gefangen gesetzt werden muß. Das Kriegsgericht fürchtet man nicht mehr. Fest
steht, daß von unserem ganzen Heer, Fußvolk, Artilleristen, Kavallerie, Train hinter der
Front (wovon die drei letzteren es im allgemeinen verhältnismäßig gut haben), wenigstens
10 Prozent Gefängnisstrafen erhielten, wovon die meisten über fünf Jahre hinausgingen.
Viele von diesen weigerten sich dennoch, wieder nach der Front zurückzukehren und ver
langten, gleich ihre Strafe abzusitzen, was im allgemeinen verweigert wird."