Volltext: Der Völkerkrieg Band 6 (6 / 1916)

Vom Parlament und der Regierung 
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nicht unwidersprochen blieb. Lord Selborne hob hervor, daß die Zensur zum Teil von 
Personen ausgeübt würde, die an die Weisungen mehrerer Regierungsämter gebunden, 
nicht wüßten, nach welchen Grundsätzen sie sich zu richten hätten, und betonte, daß das 
Kabinett dafür verantwortlich sei, wenn unangenehme Nachrichten oder Kritiken gegen 
die Regierung unterdrückt und zurechtgestutzt würden. 
Lord Kitchener hielt zwei bemerkenswerte Reden im Oberhaus. In der ersten am 
28. April 1915 behauptete er, er müsse mit größtem Widerstreben die schlechte unmensch 
liche Behandlung britischer Gefangener durch die deutsche Armee als unbestreitbar wahr 
annehmen. Gefangene seien nackt ausgezogen und in verschiedener Weise mißhandelt, 
in einigen Fällen kalten Bluts erschossen worden. Selbst verwundete Offiziere würden 
mutwillig beleidigt und häufig geschlagen. In den Gefangenenlagern litten die Eng 
länder, die anders behandelt würden als Franzosen und Russen, vielfach Mangel an 
Nahrung. Kitchener schloß: Deutschland habe viele Jahre hindurch vor der zivilisierten 
Welt als große Militärnation posiert und in reichem Maße militärische Fähigkeit und 
Mut bewiesen, aber es hätte auch einen Standard militärischer Ehre und militärischen 
Verhaltens aufstellen müssen, der ihm, wenn nicht die Freundschaft so doch wenigstens 
die Achtung der Nationen erworben hätte. Statt dessen habe es sich zu Handlungen 
erniedrigt, die gegen die Haager Konvention verstoßen, aus immer seine Geschichte be 
fleckten und mit der barbarischen Wildheit der Derwische wetteiferten. 
In Deutschland hat man die Verleumdungen Kitcheners mit Entrüstung zurückgewiesen 
und das Urteil über seine Persönlichkeit mit Bedauern einer Revision unterzogen. 
In der Oberhaussttzung vom 18. Mai gab Lord Kitchener eine seiner üblichen, für die 
Verbündeten und die Neutralen bestimmten Darstellungen der Kriegslage auf den ver 
schiedenen Kriegsschauplätzen, die nicht in allem mit den Tatsachen übereinstimmte, 
und schloß: „Ich habe erklärt, daß ich dem Lande Mitteilung machen würde, wenn 
weitere Mannschaften für den Krieg gefordert würden. Der Zeitpunkt dazu ist gekommen, 
ich verlange noch 300000 Rekruten zur Bildung neuer Heere. Die bei der Herstellung 
von Kriegsmaterial irgendwelcher Art beteiligten Leute brauchen ihre Arbeit nicht zu 
verlassen. Mein Aufruf wendet sich an solche, die nicht bei dieser Pflicht mitwirken." 
Auch diesen Ausführungen wußte die „Times" zu entnehmen, daß die Munitionsherstel 
lung nicht befriedige, daß dies eine der Hauptursachen der politischen Erregung sei und 
daß deshalb das Kriegsamt durch die Schaffung einer besonderen Behörde für die Aus 
sicht über die Kriegsvorräte entlastet werden müsse. Auch die Art der Werbung des 
Kriegsamtes, das in den Blättern eine Anzeige mit den oben zitierten Schlußworten der 
Oberhaus-Rede Lord Kitcheners in Faksimiledruck veröffentlicht hatte, fand nicht den 
Beifall der von Lord Northcliff geleiteten Blättergruppe; „Times" und „Daily Mail" 
lehnten die Aufnahmen des Aufrufes ab, setzten ihre Angriffe gegen Kitchener unver 
mindert fort und erklärten immer wieder, nicht nur die Mehrzahl des Unterhauses, sondern 
der gesamten Bevölkerung wünsche die allgemeine Wehrpflicht. So mußte denn die Regie 
rung mehr und mehr erkennen, daß sie nicht mehr das volle Vertrauen des Landes besaß. 
Am 21. Mai 1915 vertagten sich beide Häuser bis zum 3. Juni 1915. 
Der Rücktritt und die Neubildung des Kabinetts 
19. Mai 1915. 
Der erste Seelord, Admiral Sir John Fisher, ist zurückgetreten; das Ka 
binett ist ebenfalls zurückgetreten. 
Im Unterhaus teilte Ministerpräsident Asquith mit, daß man Schritte zur Neu 
bildung des Kabinetts auf breiterer, persönlicher und politischer Grundlage tun wolle. 
Um aber Mißverständnissen zuvorzukommen, betone er, daß die geplanten Aende-
	        
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