Volltext: Der Völkerkrieg Band 6 (6 / 1916)

230 Serbien, Montenegro und Albanien während des zweiten Kriegshalbjahres 
Trotz allem war die Stimmung der serbischen Armee, die sonst gut verpflegt wurde, 
nicht gebrochen, und auch in der Bevölkerung lebte der angeborene Optimismus langsam 
wieder aus, als die Seuche mit Hilfe einer neu eingetroffenen englischen Sanitäts 
misston Mitte April 1915 über Erwarten rasch zu erlöschen begann. Die Kämpfe an 
der Westfront und in den Karpathen mit ihrem ewigen Einerlei in den Vorwärts- und 
Rückwärtsbewegungen ließen ja aus eine lange Dauer des Winterfeldzuges und der Ruhe 
an der serbischen Front schließen, und wenn nicht die furchtbaren Folgen der Typhus 
epidemie im ganzen Lande zu spüren gewesen wären, wenn nicht die Verarmnng des 
Bauerntums, des sozialen und wirtschaftlichen Rückgrates des Landes, infolge der man 
gelnden Ausfuhr und des zusammengebrochenen inneren Marktes immer bedenklicher ge 
worden wäre, und die Staatsfinanzen nur noch mit Mühe durch Vorschüsse von Frank 
reich, die am 1. April 1915 bereits 185 Millionen betrugen (vgl. VII, S. 282), und 
gegen Verpfändung von Monopolen, Eisenbahnen und anderem Staatsgut an England 
hätten vor dem Bankbruch bewahrt werden können — wahrlich, man hätte in Risch und 
anderwärts in Serbien säst alle Schrecknisse de8 Krieges vergessen können. Rur Belgrad 
wurde von Zeit zu Zeit von den österreichisch-ungarischen Geschossen, die von jenseits 
der Save der Bevölkerung von Belgrad ihre „feurigen" Grüße herübersendeten, mehr oder 
weniger heimgesucht. Doch hatte man sich in der serbischen Hauptstadt mit der Zeit auch 
daran gewöhnt und ging ruhig den Geschäften nach, als ob sich nichts ereignet hätte, 
umsomehr, als man wußte, daß mit Hilfe der englischen und französischen Freunde eine 
energische und umfassende Neuorganisation des serbischen Heeres vorgenommen wurde 
(vgl. S. 225). In Risch gab es nach dem allmählichen Erlöschen der Epidemie sogar 
Vergnügungen aller Art. Dankgebete in der Kathedrale nach den Siegesdepeschen der 
Petersburger Telegraphenagentur, so vor allem auf die Meldung von der Kapitulation 
von Przemysl, offizielle Diners oder sonstige Festbankette zu Ehren durchreisender russi 
scher, französischer oder englischer Generale, sowie feierliche Einholungen und Empfänge 
fremder Sanitätsmissionen, wechselten mit Musikkonzerten, Theater- und Kino-Vorstellungen 
ab und gaben dem gesamten öffentlichen und gesellschaftlichen Leben einen fröhlichen, 
geradezu an Leichtsinn streifenden Charakter. 
Diese gute Stimmung hielt auch später während des Frühjahrs und Sommers an. 
Sie änderte sich selbst dann nicht, als die Deutschen mit der großen Offensive einsetzten 
und die Russen eine Position und eine Festung nach der anderen verloren hatten. Die 
Regierung war wie mit Blindheit geschlagen. Die Erklärungen des Ministerpräsidenten 
Pasitsch in den geheimen Sitzungen der Skupschtina, die zeitweise nach Risch einberufen 
wurde, um der Regierung das Vertrauen und die nötigen Kredite zu votieren, gipfelten 
stets in der Versicherung, daß die Lage eine vortreffliche sei, daß die Siege der Deutschen 
und Oesterreicher nichts zu bedeuten hätten, weil der Rückzug der russischen Armee plan 
mäßig vor sich gehe und daß man unmittelbar vor einem entscheidenden russischen Sieg 
stehe. Pasitsch wirklicher, vielleicht auch von der militärischen Diktatur, die in Kragujevac 
ihren Sitz und in Kronprinz Alexander ihr Haupt hatte, erzwungener Optimismus ver 
stand es, diese Stimmung auch im Publikum rege zu erhalten, was um so leichter war, 
als das alte geschichtliche Parteiensystem, in dem sich, wie L. Freiherr v. Mackay in 
der „Hilfe" schreibt, die bürokratisch konservative Rapredniaki als rechten Flügel, Na 
tionalisten und Jungradikale als gemäßigtes Zentrum und Radikale als linker Flügel 
die Wage hielten, säst ganz verschwunden war. Ueberdies wurde die öffentliche Meinung 
in einer geradezu strafwürdigen Weise hintergangen. Telegramme, die von Siegen der 
Deutschen und Oesterreicher berichteten, wurden unterdrückt und nur das veröffentlicht, 
was der Regierung genehm war. So geschah es mitunter, daß man selbst russische Zeitungen 
konfiszierte, wenn sie kritische Bemerkungen über den russischen Rückzug enthielten.
	        
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