Volltext: Der Völkerkrieg Band 6 (6 / 1916)

214 Rußland während des zweiten Kriegshalbjahres 
und Gut wird geplündert. Selbst in Lodz, dem „russischen Manchester*, einer Stadt 
mit 500 000 Einwohnern, wütete vor deren Einnahme durch die Deutschen während 
einiger Tage ein heftiges Judenpogrom. 
Die russischen Militärbehörden begnügen sich aber bald auch mit diesen traditionellen, 
durch die russische Verwaltungspraxis geweihten Formen der Pogrome nicht mehr und 
haben ihrerseits dazu beigetragen, die russische moderne Folterkammer um eine wirk 
same Waffe zu bereichern. Sie brachten zur Anwendung ein ruchloses Mittel, das sie 
der Geschichte der Mittelalterlichen Judenverfolgungen entnommen haben: Die Aus 
weisung der gesamten jüdischen Bevölkerung aus einer ganzen Reihe von Ortschaften.* 
Und zwar geschah dies auf ausdrückliche Weisung des Generalissimus des russischen 
Heeres, des Großfürsten Nikolai Nikolajewitsch, wie ein Befehl beweist, den der Sonder 
berichterstatter der „Vosstschen Zeitung* auf einer Reise durch Rußland im Frühjahr 
1915 in Abschrift erhielt und in seinem Blatte wörtlich veröffentlichte. 
„Ganz wie im finstern Mittelalter*, heißt es in dem Aufruf des „Bundes" weiter, 
„geschieht auch der „Auszug" der Juden: Männer und Frauen, Gesunde und Kranke, 
gebrechliche Greise und kleine Kinder ziehen zu Fuß tage- und nächtelang durch das Land, 
obgleich das Ziel ihrer Wanderung mit der Eisenbahn oft in einigen Stunden zu er 
reichen wäre. Unsägliches Elend, unmenschliche Martern und Entbehrungen begleiten sie 
auf ihrer Wanderung. Nicht selten sind unterwegs Todesfälle von Kindern und vor 
zeitige Entbindungen. Man schreitet in Nacht und Sturm, und die Panik, die sich 
der Ausgewiesenen bemächtigt, ist so groß, daß Mütter ihre Säuglinge verlieren .... 
Damit nicht genug, werden die Juden unter den nichtigsten Vorwänden vor Feld 
gerichte gestellt, die sie zum Tode durch den Strang oder zu Zwangsarbeit und Ver 
bannung verurteilen. Und wenn selbst die russische Feld„justiz* irgendwelche Beweise 
für ihre Schuld nicht ausbringen kann, werden sie dennoch einer entehrenden Körper 
strafe unterworfen und für die Dauer des Krieges aus ihrem Wohnsitz ausgewiesen .... 
Von dem wilden Toben der Kosaken wollen wir schon gar nicht reden. Einen Juden 
niederzumachen oder mindestens zu berauben, ist ein gewöhnlicher lustiger Sport der 
Kosaken geworden, die selbstredend dafür ungestraft bleiben .... 
Wahrlich, maßlos ist die Unverftorenheit der russischen Regierung! Ueber 300000 
Juden sind unter die Soldaten gesteckt, vielen von ihnen sind Tapferkeitsmedaillen, 
Orden und Auszeichnungen im Felde verliehen worden. Mit Ueberschwänglichkeit sonder 
gleichen lobte die Regierungspresse den Patriotismus der Juden, ihre zahlreichen 
patriotischen Kundgebungen, ihre Sammlungen für verwundete Krieger und deren Hinter 
bliebenen, den fteiwilligen Dienst vieler junger Juden usw. Der Zar selbst hat 
in einer Reihe von Städten jüdische Deputationen empfangen und bat jedesmal, den 
Juden seinen Dank für ihre „Liebe und Treue" zu übermitteln. Dies alles hindert 
aber keineswegs die Regierung, zur gleichen Zeit durch ihre Zeitungsreptilien und durch 
die oben geschilderte Handlungsweise der Militärbehörden, die russische Bevölkerung 
daran glauben zu machen, daß die Juden gemeine Landesverräter seien. Ist noch 
irgendwo in der Welt ein ähnliches ruchloses Spiel mit der Ehre, dem Leben und 
dem Hab und Gut von Millionen friedlicher Bürger denkbar? 
Der Zweck dieser Politik ist klar: Die Fabel vom Landesverrat der Juden, in Um 
lauf gesetzt während des Krieges, in einem Moment äußerster Erregung, soll das voll 
bringen, was die Ritualmordlegende nicht in genügendem Maße vermocht hat, nämlich 
einen Haß auf die Juden erwecken, eine Rachsucht in den breitesten Schichten der 
russischen Bevölkerung aufstacheln. Auch soll diese Fabel der Regierung im Notfälle 
dazu dienen, den Groll der Bevölkerung gegen den Zarismus aus die Juden 
abzuleiten."
	        
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