Volltext: Der Völkerkrieg Band 6 (6 / 1916)

212 Rußland während des zweiten Kriegshalbjahres 
gebung des Großfürsten herausgelesen hatten. Um das magere Geschenk etwas zu ver 
schönern, wandte die russische Regierung in ihrem Erlaß wieder die Bezeichnung „Zar- 
tum Polen" an, die in den russischen Grundgesetzen und im Titel des Zaren vorkommt, 
die aber in den letzten Jahren systematisch vermieden worden war. Gleichzeitig wurde freilich 
der Beschluß des russischen Ministerrats verkündet, wonach das Gouvernement Cholm, 
das vor einigen Jahren durch ein Gesetz geschaffen und aus dem Machtbereich des 
Generalgouverneurs von Warschau ausgeschieden worden war, nunmehr aus der Reihe 
der zum Zartum Polen gehörenden Gouvernements zu streichen ist. Gegen die Schaffung 
dieses Gouvernements, dessen Bevölkerung in ihrer Mehrheit polnisch ist, aber nunmehr 
russifiziert werden sollte, war die polnische Vertretung in der Reichsduma und im Reichs 
rat seinerzeit nur lau ausgetreten, weil man ihr dafür die Städteordnung versprach. Sie 
wurde aber betrogen. Die russische Regierung setzte die Städteordnung nicht durch, bildete 
aber gleichwohl das neue Gouvernement. Nun zog sie die letzte Folgerung aus den da 
maligen Vorgängen, indem sie die Abtrennung von Cholm verfügte und damit die im 
Wiener Kongreß festgesetzten Grenzen des russischen Zartums Polen beschränkte. 
Die Siege der Verbündeten, die Gärung in Warschau und die Nachricht, daß am 
5. Juni 1915 in Petrikau eine über 400 Personen zählende Zusammenkunft angesehener 
Polen, russischer Staatsangehöriger — unter ihnen vier gewesene Dumamitglieder — 
stattgefunden habe, die das Zusammengehen des ganzen Königreichs Polen mit den 
Zentralmächten, unter Voraussetzung der Unteilbarkeit Polens, proklamierte, veranlaßten 
den Ministerrat in der zweiten Hälfte des Juni 1915 eine russisch-polnische Konferenz 
aus sechs Polen und sechs Russen einzuberufen zur Beratung über eine Autonomie 
Russisch-Polens. Denn auch aus Frankreich waren Berichte eingetroffen, daß gewisse 
politische Kreise zu einer Stellungnahme in der Polenfrage drängten. 
Am 5. Juli 1915 begannen in St. Petersburg im Marienpalast, dem Sitz des russischen 
Reichsrates, die Sitzungen dieser russisch-polnischen Konferenz, deren erste Sitzung durch 
den Ministerpräsidenten Goremykin eröffnet wurde. Der Kommission lagen zwei Autonomie 
projekte vor, eines das noch von Minister Maklakow ausgearbeitet worden war, ein 
anderes, das die Gruppe Briantschaninow der russischen Liberalen ausgestellt hatte. 
Demgegenüber legten die polnischen Mitglieder der Konferenz einen Verfassungsentwurs 
vor, der einen Statthalterposten in Warschau, eine politische Autonomie mit einem 
gesetzgeberischen Landtag (aus dessen Kompetenz die allgemein-staatlichen Angelegenheiten 
ausgeschlossen wären), die Gleichberechtigung der Polen mit den Russen in den Aemtern 
und Polonisierung des Schul- und Gerichtswesens verlangte. Um den Polen so viel zu 
versprechen, waren die Russen jedoch damals noch nicht genügend geschlagen. Die Be 
ratungen wurden daher bereits am 13. Juli 1915 unterbrochen mit dem Versprechen der 
Regierung, daß sie nach der Eröffnung der Duma wieder aufgenommen werden sollen. 
Maßnahmen gegen die Ukrainer 
Die wichtigste Frage, von der vielleicht die Zukunft Rußlands in Europa abhängt, 
ist die Ukrainische Frage, die Frage ob ein Volk von 30 Millionen Seelen, das 
in ethnographisch einheitlicher, kompakter Masse ein Wohngebiet von 650 000 Quadrat 
kilometern zwischen San und Pripetfluß einerseits und dem Don, Kaukasus und Schwarzen 
Meer andererseits bevölkert und im Mittelalter einen festen Staat gebildet hatte, dann 
aber mit Beginn der Neuzeit seine politische Unabhängigkeit an das Großruffentum und 
an die Polen verloren hatte und namentlich von den ersteren schwer heimgesucht wurde, 
weiterhin auf seine nationalen Rechte verzichten soll oder befreit von der russischen Ge 
waltherrschaft politisch und wirtschaftlich eine Stütze der Zentralmächte und ein Boll 
werk gegen die russischen Expansionsgelüste uach Westen sein könnte.
	        
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