Die große Offensive nördlich der unteren Weichsel bis zum Fall von Warschau 113
nicht fassen, daß man wieder ein freier Mensch und nicht von Spionen umgeben ist;
man kann wieder frisch und frei aufatmen. Abends ging ein Teil der Truppen schon
weiter. Noch immer ist das Feuer nicht gelöscht, immer wieder fällt ein Haus den Flam
men zum Opfer, aber jetzt scheint es doch lokalisiert zu sein. Die deutschen Soldaten
greifen auch helfend ein, und hoffentlich ist bald auch darin Ordnung."
Der örtliche Erfolg der Einnahme Mitaus, der Hauptstadt Kurlands, lag vor allem
in der Eigenschaft dieser Stadt als Knotenpunkt der Eisenbahnen nach Riga, Windau,
Libau und Dünaburg, und ferner in der Annäherung der deutschen Truppen an Riga,
der Hauptstadt Livlands, bis auf 40 Kilometer. Es sollen denn auch bereits am 20. Juni
1915 sämtliche behördlichen Archive Rigas, die Geldbestände der dortigen Staatsbankfilialen
und die Akten der Gerichte nach Petersburg verbracht worden sein. Die Staatsbeamten
erhielten die Weisung, sich zur Abreise vorzubereiten. Ueber 10000 Personen der Zivil
bevölkerung von Riga verließen die Stadt fluchtartig. Die Nord-West-Bahn erhielt
Befehl, für 19 Flüchtlingszüge täglich Vorsorge zu treffen.
Die Bedeutung der Einnahme Mitaus geht aber weit über den örtlichen Erfolg hinaus.
Die taktischen Vorteile, die hier der Heldenmut deutscher Truppen errang, übersetzten
sich unmittelbar in strategische Wirkungen, denn mit jedem Schritt auf den äußeren
Flügeln wurde der Raum verengt, in dem die Russen ihren Rückzug auszuführen ge
zwungen waren. Hier zeigte sich die überwältigende Hebelwirkung der riesigen Zange, mit
der die strategische Anlage der deutschen Operationen die russische Macht umfaßt hatte. Auf
dem Nordflügel ist die Einnahme Mitaus durch ein Fortschreiten der deutschen Offensive
östlich Poniewiez ergänzt worden, und der Erfolg pflanzte sich weiter südlich auf die
Njemen- und Narew-Front fort, wo deutsche Truppen auch bei Suwalki und Lomza
siegreich vordrangen.
Der Durchbruch bei PrasznySz am 1?. bis 15. Juli 1915
Zusammenfassender Bericht aus dem deutschen Großen Hauptquartier
vom 31. Juli 1915
Von der Piliza bis zum baltischen Ostseerande rücken die unter dem Oberbefehl des
Feldmarschalls v. Hindenburg stehenden Truppen wiederum kräftig vor. Im Rahmen
dieser großen Offensive erhielt der General der Artillerie v. Gallwitz den Auftrag, mit
den Truppen, die unter seiner Leitung seit Monaten die Wacht an der Südgrenze West-
und Ostpreußens gehalten hatten, und einigen Verstärkungen die feindliche Stellung zu
durchstoßen. Die Aufgabe mußte als außerordentlich schwer erscheinen, hatten die Russen
doch die Zeit der Ruhe ausgenutzt, um ein Netz von günstig gelegenen und sehr stark
befestigten Stellungen zwischen ihrer vordersten Linie und den Narewfestungen aus
zubreiten. Wer jetzt diese teils erstürmten, teils einfach verlassenen Befestigungswerke
durchschreitet, der staunt immer von neuem über das Maß der aufgewandten Arbeit und
technischen Sauberkeit. Meilenweit ziehen sich — in einer Tiefe von nur 15 bis 20 Kilo
metern — drei, vier, ja fünf Systeme von Schützengräben hintereinander hin, Schützen
gräben von einer Tiefe und Stärke, wie sie erst der hartnäckige Stellungskrieg geschaffen
hat. Hunderttausende dicker Baumstämme sind da hineingearbeitet, Millionen von Sand
säcken liegen aus den Brustwehren und türmen sich zu breiten Seitenwehren. Stellen
weise sind bombensichere Unterstände und Pserdeställe tief in die Erde eingebaut. Ueberall
stehen dichte Drahthindernisse vor der Front, oft versenkt und in zwei bis drei Reihen
hintereinander. Vorspringende Bastionen, bequeme und sichere Beobachtungsstände leiten
zum Festungscharakter über. Das Gelände ist stark hügelig, hier und da bergig, mit
weit überragenden Höhen und steilen Abhängen. Von den zahlreichen Wäldern haben
die Russen einen erheblichen Teil niedergelegt, um freiere Uebersicht und weiteres Schuß-
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