Volltext: Der Völkerkrieg Band 5 (5 / 1916)

Das neutrale Fürstentum 
Liechtenstein 
Ein staatsrechtliches Kuriosum 
Ende November 1914 hat Sir Edward Grey im englischen Unterhause in Beant 
wortung einer Anfrage folgende Erklärung abgegeben: Ich bin vom Botschafter der 
Vereinigten Staaten unterrichtet worden, daß das souveräne Fürstentum Liechtenstein sich 
im gegenwärtigen Kriege als neutral betrachtet. Der Handels- und anderweitige 
Verkehr mit den Untertanen dieses Fürstentums ist in England nicht verboten. 
Die Souveränität des Fürstentums Liechtenstein, das rund 159 Quadratkilometer 
umfaßt und etwa 10000 Einwohner zählt, ist durch freiwilligen Verzicht der Liechtensteiner 
oder ihres Fürsten stark eingeschränkt. Oesterreich-Ungarn besorgt dem Fürstentum das 
Zollwesen, die Post und den Telegraphen; das K. K. Oberlandesgericht in Innsbruck und 
das K. K. Appellationsgericht in Wien sind für die Liechtensteiner obere Instanzen für 
Zivil- und Straffachen, und die habsburgische Monarchie liefert dem Fürstentum die 
Münzen, die Briefmarken, den Tabak und die Finanzen. 
Der Landesherr Johann II., Fürst von Liechtenstein, Herzog von Troppau und 
Jägerndorf, gehört zu den ältesten und reichsten Feudalherren Oesterreichs; er besitzt in 
Mähren, Niederösterreich, Böhmen und Ungarn Liegenschaften von 187000 Hektar mit 
zahlreichen Schlössern und Meierhöfen. Der Fürst residiert nur selten im Lande, die 
Regierung besorgt ein Landesverweser mit einem kleinen Beamtenaparat, dessen Sitz sich 
in Vaduz befindet. Die gesetzgebende Tätigkeit steht einem fünfzehngliedrigen Landtag 
zu, der alljährlich im Mai zusammentritt. Eine Armee oder einen Landsturm besitzt 
Liechtenstein nicht; es kann also von militärischen Maßnahmen zum Schutze der liechten 
steinischen Neutralität nicht die Rede sein. 
Wirtschaftlich dagegen verkehrt Liechtenstein mehr mit der Schweiz als mit Oesterreich. 
Und als schon bald nach Kriegsausbruch die Mehlversorgung aus Oesterreich-Ungarn 
stockte und die vorhandenen Vorräte erschöpft waren, ist die Mehl- und Brotversorgung 
von der Schweiz aus derart geregelt worden, daß jeder Haushaltungsvorstand aus Grund 
einer vom Ortsvorsteher ausgestellten Brotkarte im Tag ein Kilo Brot und eine für 
den Kopf berechnete bescheidene Menge Mehl aus der Schweiz persönlich abholen kann. 
Da das Jahr 1915 sehr ertragreich war, bot das aus dem reichlich vorhandenen Mais 
hergestellte sogenannte Türkenbrot einigen Ersatz für die für mehrköpfige Familien kaum 
ausreichende Tages-Brotration. Wie die meisten Bäckereien, haben auch die meisten 
liechtensteinschen Metzger ihre Werkstätten geschlossen, denn weder aus Oesterreich-Ungarn 
noch aus der Schweiz war Schlachtvieh zu beziehen, und der einheimische Viehbestand 
durste aus wirtschaftlichen Gründen nicht angegriffen werden. Obwohl jede Haushaltung 
täglich ein Kilo Fleisch aus der Schweiz beziehen konnte, verschwand der Fleischverbrauch 
infolge der hohen Preise und des für eine größere Familie nicht ausreichenden 
Quantums fast ganz und ist nur durch die stark verbreitete Schweinezucht etwas ge 
hoben worden. Neben dem Mangel von Mehl und Fleisch war das Ausbleiben regel 
mäßiger Petroleumlieferungen besonders empfindlich; auch alle anderen zum Lebens 
unterhalt notwendigen Artikel sind stark im Preise gestiegen und die Arbeits- und Ver 
dienstmöglichkeiten sehr zurückgegangen. 
Da jedoch Liechtenstein kaum Einfluß auf die Entwicklung des Völkerkriegs haben wird, 
soll in Zukunft nicht nochmals darauf zurückgekommen werden.
	        
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