Volltext: Der Völkerkrieg Band 4 (4 / 1916)

802 Die neutralen Nordstaaten und Amerika bis zur Versenkung der „Lusitania" 
Erziehung, die ihn für seinen auserwählten Beruf vorzüglich vorbereitet, ihn aber sonst nicht 
viel belastet. Hier und da hat einer ein Steckenpferd, hier Poesie, dort Astronomie, aber 
über das, was außerhalb Amerikas vorgeht oder vorgegangen ist, zerbricht er sich nicht viel 
den Kopf. Mittelalterliche und neuere Geschichte werden nur oberflächlich gelehrt; eins 
aber wissen sie ganz genau, daß anno 71 Bismarck Elsaß-Lothringen annektierte, und 
daß Amerika an die Reihe kommt, wenn dem „Militarismus" nicht bald ein Ende ge 
macht wird. Es hängt hier ganz von der Presse ab, ob man heute für die Königs 
mörder in Serbien Mitleid oder Grauen empfinden soll, die Amerikaner selbst wissen rein 
nichts über dieses Land. Und so hängt es auch ganz von der Presse ab, ob infolge des 
Kaperns eines amerikanischen Schiffes oder einer Neutralitätsverletzung Jndianergeheul, 
Wehklage oder ein verbindliches Lächeln vorherrscht Kommt der Mann in das 
Alter, wo er selbst in die Politik eingreifen soll, so läßt er sich über die jeweilig in 
Mode befindlichen Schlagwörter von den Zeitungsschreibern informieren. Deshalb ist es 
für den richtigen Amerikaner schwer, sich aus seiner Parteizugehörigkeit herauszuheben oder 
sich seiner gefaßten Vorurteile zu entledigen; er ist unbewußt Sklave einer Beeinflussung, 
der all sein selbständiges Denken unterworfen ist. Das ist eine Charaktereigentümlichkeit, 
mit der man rechnen muß, die der Presse und England die Arbeit so leicht gemacht hat." 
Aber auch wenn die öffentliche Meinung in Amerika selbständiger wäre, könnte sie sich 
infolge der politischen und konstitutionellen Einrichtungen des Landes doch nur bei den 
Wahlen Einfluß verschaffen. „Denn der Präsident der Vereinigten Staaten ist," wie 
Karl Eugen Schmidt im „Stuttgarter Neuen Tagblatt" aus Grund von Aeußerungen 
des Deutsch-Amerikaners und Kongreßmitglieds Hermann A. Metz in einem Artikel 
über die Verantwortlichkeit der amerikanischen Politik schreibt, „viel unabhängiger und 
mächtiger als das Oberhaupt einer europäischen Republik und gerade in der auswärtigen 
Politik ist er praktisch unbeschränkt. Nur wenn er einen Vertrag mit einem fremden 
Staate schließen will, bedarf er der Zustimmung des Senats, und natürlich kann er 
nicht aus eigene Faust den Krieg erklären. 
Wenn also ein energischer, willensstarker Präsident und Staatssekretär vorhanden ist, 
so wird die ganze auswärtige Politik von diesen beiden oder vielmehr, da der Präsident 
seinen Staatssekretär nach Gefallen ernennen und absetzen kann, von diesem einen Mann 
gemacht. Dies wäre jetzt zum Beispiel der Fall, wenn nicht Professor Wilson, sondern 
Colonel Roosevelt zum Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt worden wäre. 
Roosevelt, der frühere Präsident — dessen Artikelserie über den Krieg in der „Chicago 
Daily News" übrigens nach dem „Outlook" durchaus keine Polemik gegen Deutschlands 
Kriegführung enthält, wie nach §den zuerst bekannt gewordenen Auszügen der „Times" 
angenommen werden mußte —, hätte ohne Zweifel die Neutralität schon lange aufgegeben 
und zwar, wie aus seinen Kundgebungen hervorzugehen scheint, gegen Deutschland. ... 
Die beiden Männer aber, die jetzt die Verantwortung für die amerikanische Politik 
tragen, scheuen sich vor dieser Verantwortung und waren froh, als sich im Senat ein 
paar starke Männer fanden, wie Root und Lodge, die das Steuer aus ihren schwachen 
Händen nahmen und die Arbeit besorgten, ohne darum dem Präsidenten und seinem 
Staatssekretär ihr Amt abnehmen zu wollen. Wilson, von dem andererseits wieder be 
hauptet wird, „die Neutralität sei ihm gleichsam organische Gewohnheit, der er nicht 
untreu werden könnte, selbst wenn er es wünschte", schwankt gleichwohl hin und her und 
weiß weder aus noch ein, ist also den genannten Senatoren dankbar, wenn sie ihm 
jedesmal sagen, was er tun soll. Bryan, der Staatssekretär, ist noch schwächer und 
schwankender als Wilson. Wenn er eine Entscheidung treffen soll, legt er sich ins 
Bett und bleibt so lange „krank", bis andere Leute die Sache entschieden haben. So 
haben die Vereinigten Staaten im gegenwärtigen ernsten Augenblick keinen wirklichen
	        
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