Volltext: Der Völkerkrieg Band 4 (4 / 1916)

286 Die neutralen Nordstaaten und Amerika bis zur Versenkung der „Lusitania" 
Die nach dem Verlauf des ersten Kriegshalbjahres beginnende dritte Phase der schwe 
dischen Stimmung steht im bewußten Gegensatz zu dem allzu finanziell politischen Denken 
der Geschäftsleute, ohne deshalb in das Gefühlsmäßige der ersten Periode zurückzufallen. 
„Mit ganz erstaunlicher Kraft hat sich heute die öffentliche Meinung," wie der „Frank 
furter Zeitung" Mitte März 1915 aus Stockholm geschrieben wird, „dem realpolitischen 
Gedanken zugewandt. Hieß es früher: Wir wollen die Neutralität um jeden Preis auf 
rechterhalten, wir wollen nichts hören und wollen nichts sagen, so hat die gegenwärtige 
Strömung mit diesem ängstlichen Totschweigen vitaler Probleme und mit der ganzen 
Vogelstraußpolitik gründlich gebrochen. Man wachte zu der Erkenntnis auf, daß die 
Lage für Schweden während des Krieges, besonders aber nach dem Krieg ernste Mög 
lichkeiten in sich berge. Rußland, so folgert man, wird in naher Zukunft ein vermehrtes 
Verlangen nach einem eisfreien skandinavischen Hafen tragen, und dies wird für ein 
bestegtes und eingeschnürtes Rußland eine noch größere Notwendigkeit darstellen als für 
ein siegreiches. Doch auch dem zu Boden gerungenen Rußland kann Schweden allei» 
nicht widerstehen. Diese Wahrheiten werden jetzt in Hunderten von Zeitungen und in 
den maßgebenden politischen Zeitschriften in dringlichster Weise erörtert. Die notwendigen 
Schlußfolgerungen, die jeder auch nur halbwegs Geschulte aus diesem Leitmotiv der 
schwedischen Preßerörterung ziehen muß, ist: Schweden muß jetzt, wo es noch Zeit ist, 
der russischen Gefahr begegnen und muß sich für die Zukunft den Beistand eines dem 
russischen Gegner gewachsenen Freundes sichern." 
In Norwegen endlich verbindet sich mit einer englandfreundlichen Unterströmung 
ein gewisser Unwille gegen Deutschland, der ohne eigentlichen Grund teils auf die skan 
dinavischen Einflüsse von Dänemark her zurückzuführen sein mag, und teils auf unkon 
trollierbaren Gefühlsstimmungen beruht. Professor Dr. Hollmann zitiert dafür in seinen 
Ausführungen in der „Kölnischen Zeitung" einen Norweger, C. W. Rubenson im 
Christianiaer „Morgenblad", der vom deutschen Generalstab zu einer Reise an die Front 
eingeladen war und seine Schilderungen mit folgenden allgemeinen Bemerkungen ein 
leitet: „Es ist niemand in Norwegen, der die großen und guten Eigenschaften der 
Franzosen und Engländer unterschätzt. Etwas anderes ist es in vielen Kreisen, wenn 
es die Deutschen betrifft. Da spielt bei vielen das persönliche Moment mit unter: Ich 
kann nun einmal die Deutschen nicht leiden. ... Man kann wohl zugeben, daß im deut 
schen Wesen vieles ist, das verletzend wirken kann. Und das ist nicht zum wenigsten 
ausgeprägt bei den Deutschen, mit denen wir zumeist Gelegenheit haben, Bekanntschaft 
zu machen — Touristen und Handelsreisenden. Aber es wäre für uns Norweger viel 
leicht auch nicht vorteilhaft, wenn man uns nach derselben Klasse von Menschen be 
urteilen wollte. Vielleicht gibt es auch einen tiefern Grund für einen gewissen instink 
tiven Mangel an Wohlwollen gegenüber den Deutschen, die uns doch so nahe verwandt 
sind. Die Eigenschaften, die das deutsche Volk auszeichnen, sind Fleiß, Gründlichkeit, 
Ordnung und Disziplin. Diese Eigenschaften sind nicht unsere starke Seite. Unser so 
genanntes demokratisches Gefühl hat es besonders schwer, sich mit Ordnung und Disziplin 
zu vergleichen, und es ist menschlich, etwas mit Mißtrauen zu betrachten, das einem 
selbst fremd ist. 
Daß in weiten Kreisen im Norden ein gewisser Unwille gegen Deutschland verbreitet 
ist, das zu verheimlichen liegt kein Grund vor. Wir wissen es alle, und die Deutschen 
wissen es selbst so gut wie wir. Darauf läßt auch ihre übertriebene „Aufklärungsarbeit" 
in Skandinavien schließen. Diese Propaganda hat sicher nicht Deutschlands Sache ge 
fördert. Niemand legt Wert darauf, sich seine Meinung vorschreiben zu lassen. Die 
Deutschen glauben sich ungerecht beurteilt und haben einen natürlichen Drang, sich zu er 
klären; aber so etwas wird leicht als der Ausdruck eines schlechten Gewissens betrachtet."
	        
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