Volltext: Der Völkerkrieg Band 4 (4 / 1916)

Italien als neutraler Staat von August 1914 bis Anfang Mai 1915 255 
des Generals Pelloux, er war in den beiden kurzlebigen Ministerien seines Freundes Sonnino natürlich 
in der ersten Reihe der Mitarbeiter. So bildete sich die allgemeine Vorstellung heraus, Antonio 
Salandra sei einer der klarsten Köpfe und der rechtlichsten Geister des Parlaments. Außerdem schätzte 
man an ihm eines, was in Monteeitorio so selten war: die Treue. Sonnino sah in zehn Jahren 
seine Anhängerschaft auf ein Zehntel herabsinken, Salandra blieb ihm treu. Sonnino galt nach den 
beiden unglücklichen Versuchen seiner Kabinette von 1906 und 1907, die nur 100 Tage währten, als 
politisch toter Mann, aber Salandra blieb ihm treu, und hat ihn auch im Oktober 1914 nach dem 
Tode di San Giulianos als Minister des Auswärtigen in sein Kabinett berufen. 
Von Sidney Sonnino hat man einmal das Wort geprägt, er sei ein Gemisch von Toskaner, 
Jude, Calvinist und Puritaner. In der Tat hat er mit Salandra das Unitalienische in seinem 
Wesen gemein. Er entstammt einer Livorneser Bankierfamilie, die in der ersten Hälfte des 19. Jahr 
hunderts nach Alexandria auswanderte, sich dort ansehnliche Reichtümer erwarb und kurz vor 
Sidney Sonninos Geburt am 11. März 1847 nach Italien zurückkehrte. Sonninos Mutter war 
eine Engländerin, was seinem Vater den Uebertritt vom Judentum zum Calvinismus, ihm selber 
den Vornamen Sidney und eine puritanische, ebenso englische wie italienische Erziehung eintrug. 
Nach Vollendung seiner Rechtsstudien trat Sonnino 1867 als Attache in den diplomatischen Dienst, 
in dem er vier Jahre lang bei den Botschaften in Madrid, Wien, Berlin und Versailles tätig war. 
Der Tod seines Vaters und seine eigene Neigung, sich sozialer, schriftstellerischer und parlamen 
tarischer Wirksamkeit zuzuwenden, veranlaßte ihn, aus der Diplomatie auszuscheiden und nach Italien 
zurückzukehren, wo er sich zunächst in Gemeinschaft mit dem ebenfalls einer jüdischen Millionärs 
familie Toskanas entstammenden heutigen Senator Baron Leopolds Franchetti durch eine mit reichen 
Privatmitteln vorgenommene Enquete über die wirtschaftliche Lage in Sizilien bemerkbar machte, 
deren Frucht Sonninos Schrift „I condadini in Sicilia“ geworden ist. 1878 begründeten die 
beiden Politiker eine besondere Zeitschrift „Rassegna settimanale“, die Sonnino selber leitete bis 
zu seinem 1880 erfolgten Eintritt in das italienische Abgeordnetenhaus, in dem er seit 34 Jahren 
ununterbrochen den toskanischen Landkreis San Casciano vertritt. In der Kammer errang sich 
Sonnino, der sich zuerst Depretis und dann Crispi angeschlossen hatte, eine angesehene Stellung, 
namentlich durch seine Teilnahme an der rückhaltlosen Bekämpfung der berüchtigten Finanzpolitik 
des Ministers Magliani, nach dessen Sturz Sonnino 1887 bis 1889 als Unterstaatssekretär des 
damals von Giolitti geleiteten Schatzministeriums zum ersten Male an den Regierungstisch gelangte. 
Auch fernerhin blieben die Namen der beiden Staatsmänner verknüpft, aber bald im Sinne unver 
söhnlicher Gegnerschaft. Als 1893 der Ministerpräsident Giolitti stürzte, übernahm es Sonnino im 
darauffolgenden Kabinett Crispi, die Finanzen des Landes zu reorganisieren. Schon hier erkannte 
man die doktrinäre Halsstarrigkeit des Mannes. Weil der Kolonialkrieg in Abessinien die 
Zirkel seiner Finanzreform störte, verweigerte er ihm die Mittel, und die Folge davon war die 
Katastrophe von Adua. Als später das zweite Kabinett Pelloux sich für die notwendige Reform des 
Vereins- und Versammlungsrechts einsetzte und die Führung des parlamentarischen Kampfes Sonnino, 
der sich nach dem Verfall der Partei Crispi zum Führer des Zentrums aufgeschwungen hatte, als 
dem Leiter der Mehrheit überließ, war die Folge Obstruktion, Wahlniederlage und Kabinettsturz. 
Auch im folgenden Jahrzehnt, dem ersten des neuen Jahrhunderts, war Sonnino politisch nicht er 
folgreicher. Er besaß anfangs noch eine größere Partei, aber seine eigenen Unterführer Bertolini 
und San Giuliano verließen ihn, weil sie sahen, daß man mit ihm auf keinen grünen Zweig kommen 
konnte. Seine beiden Kabinette, die er vom Februar bis Mai 1905 und vom Dezember 1906 bis 
März 1909 in konfusen politischen Lagen zu stände brachte, dauerte jedes gerade hundert Tage, 
dann brachen sie an dem Mangel einer Gefolgschaft und an der Unmöglichkeit des Programms zu 
sammen. Im März 1914 wurde ihm die Kabinettsbildung zum dritten Male angeboten. Er ver 
zichtete aber zugunsten von Salandra. 
Der Schatzminister Carcano, der 1843 in Como geboren ist und dort vor seinem Eintritt 
in den Berufsparlamentarismus als Handelskammersekretär lebte, ist einer der bedeutendsten 
älteren Regierungsmänner des Hauses, der bereits als Finanzminister im Kabinett Pelloux 1898 
bis 1899, als Handelsminister im Kabinett Saracco 1900 bis 1901 und als Schatzminister in den 
Kabinetten Zanardelli 1901 bis 1903, Fortis 1905 bis 1906 und Giolitti 1907 bis 1909 tätig war. 
Seit 1912 war Carcano Vizepräsident der Kammer; er war bei seiner Berufung auch Präsident 
der Budgetkommission und genießt bei der gesamten Linken des Hauses ungeteiltes Vertrauen.
	        
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