Volltext: Der Völkerkrieg Band 4 (4 / 1916)

34 Die russischen Kriegsschauplätze bis zur Wiedereroberung von Przemysl 
Freunde, Bekannte treffen sich auf den Plätzen. Freudig begrüßen sich sich, drücken 
einander die Hände, und Glückwünsche zur Befreiung aus viertägigem Gefängnis fliegen 
hin und her. Fahnen werden herausgesteckt, die Soldaten bewirtet, so gut es geht. 
Brandschaden ist in Memel nirgends entstanden. Die Stadt anzuzünden, dazu hatten die 
Russen nicht mehr Zeit. Nur das Gut Althof ist gänzlich heruntergebrannt. Viel Vieh 
ist mitverbrannt. Von der Zivilbevölkerung sind bis jetzt etwa dreißig Getötete gezählt." 
Nach späterer amtlicher Feststellung wurden bei dem Russeneinfall im Kreise und in 
der Stadt Memel 63 Personen getötet, 43 verwundet, 458 verschleppt, darunter 189 
Frauen und 100 Kinder. Geschändet wurden, soweit bekannt, 14 Frauen und Mädchen. 
„Was sich in Memel zwischen dem 18. und 19. März zugetragen hat," so schließt der 
Kriegsberichterstatter Rudolf v. Koschützki seinen Bericht in der „Vossischen Zeitung", 
„wiegt schwerer als alle Brandstätten Ostpreußens und Polens zusammen, denn diese Dinge 
geschahen in einem Landesteil, der als Kampfgebiet gar nicht in Betracht kommt, an 
einer ruhigen, dem Gegner freundlich begegnenden, wehrlosen Bevölkerung, nach einem 
fast kampflosen Einmarsch. Weder strategische noch taktische Interessen kamen in Be 
tracht, weder Rachegefühle noch Hunger oder Not irgendwelcher Art. Es war der 
Sklave, wenn er die Kette bricht, nichts anderes. In Urbans Gasthaus versuchten 
die Offiziere die Soldaten von ihrem sinnlosen Treiben abzubringen, umsonst! Sie hatten 
alle Macht über die Horden verloren." 
Die Schilderungen der Greueltaten sind furchtbar. So erzählt der Reichstagsabge 
ordnete Dr. Gaigalat im „Berliner Lokalanzeiger": „Die Soldaten verlangten erst nach 
Branntwein und bald machten sich auch die Folgen der Betrunkenheit bemerkbar. Im 
Vorort Budzargen führten die Russen einen angesehenen ehrenwerten Bürger, der eine 
große Anzahl Flüchtlinge bei sich aufgenommen hatte, mitsamt den männlichen Flücht 
lingen am Freitag abend hinaus vor die Stadt, marterten die Leute, indem sie dem einen 
beispielsweise mehr als zehn Bajonettstiche in die Deine und den Unterleib versetzten, ihm 
die Unter- und Oberschenkel brachen und ihn erst auf flehendes Bitten töteten. Ich selber 
habe die so zugerichtete Leiche in Augenschein genommen. Die anderen mit Hinaus 
geführten verfielen ebenfalls dem Tode. Auch mehrere Gutsbesitzer und Bauern wurden 
erschlagen. In Graumen hat ein etwa 80jähriges Gutsbesitzersehepaar die Russen freund 
lich bewirtet. Dafür sind ihnen mit Gewehrkolben die Schädel zertrümmert worden." 
Und Sven Hedin, der am Tage nach dem Abzug der Russen in Memel ankam, schrieb 
dem „Aftonbladet": „Die Leichen friedlicher Bürger lagen noch auf derselben Stelle, 
wo sie abgeschlachtet worden waren. Ich habe mit einem Dutzend schwer verwundeter 
Zivilisten gesprochen. Unter diesen befand sich ein Junge, der einen Schlag mit einem 
Gewehrkolben auf die Schädeldecke erhalten hatte, ferner ein Bürgermeister mit vielen 
Bajonettstichen. Ein Zimmermann, der Vater eines zu Tode mißbrauchten jungen 
Mädchens, sprach zu mir von den Leiden, die seine Tochter auszuhalten hatte. Die 
Mutter beging Selbstmord mit Arsenik. Der Vater selbst wollte sich die Pulsader 
öffnen, ist aber durch das Einschreiten des Arztes an dieser Verzweiflungstat gehindert 
worden. Ein 82 jähriger Lehrer wurde von den Russen ohne jede Veranlassung er 
schossen. Viele ähnliche Fälle werden aus Stadt und Kreis Memel berichtet. Wir 
Schweden kennen ja nur zu gut die beispiellosen Gewalttaten gegen Finnland, aber diese 
brutale Art der Kriegführung bleibt allen zivilisierten Europäern unfaßlich. Nicht ein 
einziger Zivilist in Memel oder Umgegend hatte am Kampfe teilgenommen." 
Daß der russische Einbruch in Memel, in ein Gebiet, das in keinem organischen Zu 
sammenhang mit dem Kriegsschauplatz steht, lediglich die Plünderung des Landstrichs 
und die Verfolgung der Zivilbevölkerung bezweckte, geht auch deutlich aus Schriftstücken 
hervor, die in der Mappe eines am 6. April 1915 bei Andrzejow gefallenen russische»
	        
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