Volltext: Der Völkerkrieg Band 3 (3 / 1915)

186 Die Ereignisse an der Westfront von Mitte Januar bis Mai 1915 
schaffen. Auch könnte er seine militärische Aktion aus den Norden Frankreichs konzen 
trieren und daraus ausgehen, mit seiner bewährten Methode eine feindliche Küste der 
englischen gegenüber einzurichten. Hat unter solchen Umständen England noch immer die 
Möglichkeit, sich die französische Souveränität an dieser Küste Frankreichs mit allen 
möglichen Folgen gefallen zu lassen? Oder ist diese französische Souveränität nicht 
schon jetzt mit einer politischen Hypothek belastet, die in dem alles überwiegenden Inter 
esse um die Sicherheit Englands besteht? Hängt die Festsetzung Englands in Calais 
von einer Erlaubnis Frankreichs ab, die dieses je nach seinen Interessen widerrufen 
könnte, gerade so, wie es in der richtigen Einschätzung seiner Interessen dieselbe 
erteilt hat? 
Mein lieber Freund! Calais ist auf längere Zeit englisch, als man in Paris und 
Petersburg glauben will, und unsere Freunde, die Engländer, werden, auch wenn sie 
es wirklich aufrichtig wollten, weder während des Krieges noch nachher es verlassen 
können. Derselbe Wert, den der Besitz von Calais im Mittelalter für sie hatte, tritt 
abermals hervor. Calais ist eine gegen England gerichtete Waffe. Die Engländer haben 
ihre Hand darauf gelegt, sie werden und können es nicht mehr loslassen." 
Episoden 
Hinrichtung eines englischen Deserteurs 
In der Newyorker „Tribune" schildert deren Londoner Korrespondent die Bestrafung 
eines englischen Soldaten für Fahnenflucht vor dem Feinde: „Ich habe heute nacht im 
Hospital einen Kaplan gesprochen, der bei einem vornehmen englischen Regiment im 
Felde stand; dieses Regiment ist bei den Kämpfen in Nordfrankreich stark beteiligt ge 
wesen und jetzt beinahe vollständig vernichtet. Der Kaplan selbst liegt im Hospital in 
folge eines Nervenzusammenbruches, der ihn nach den aufregenden Erlebnissen an der 
Front befallen hat. Als Beispiel der vielen traurigen Pflichten, die er im Felde zu er 
füllen hatte, erzählte er mir folgende Geschichte: „Einmal mußte ich die letzte Nacht mit 
einem englischen Soldaten verbringen, der am nächsten Morgen hingerichtet werden sollte, 
und diese Nacht werde ich in meinem ganzen Leben nicht vergessen. Der Soldat wurde 
wegen Fahnenflucht hingerichtet. Er war kein schlechter Mensch, aber seine Nerven 
waren ihm durchgegangen, und das ist das Schrecklichste an der ganzen Sache, daß nie 
mand ihn deshalb tadeln konnte. Die Soldaten an der Front verstehen es besser als 
die Aerzte, daß die Nerven dort plötzlich reißen können. Er war einer der Lieblinge 
im Regiment, und doch lief er mitten rat feindlichen Feuer davon. Es war also 
ein Fluchtversuch vor dem Feinde, und da blieb dem Kriegsgericht nur ein Urteil übrig. 
Das Schlimmste aber war, er wollte gar nicht glauben, daß er hingerichtet werden sollte. 
Eine Exekution unter solchen Umständen wird in der englischen Armee weniger als eine 
Strafe denn als eine Mahnung für die anderen aufgefaßt, und daher sind alle freundlich 
mit dem Soldaten, der sterben muß. Am Tage wurde das Kriegsgericht abgehalten, und 
abends um 11 Uhr schickte man nach mir, um dem Verurteilten zu sagen, daß er 
morgens um 7 Uhr sterben müsse. Der Soldat wollte es gar nicht glauben. Ich mußte 
es ihm immer und immer wiederholen, daß keine Hoffnung mehr für ihn war, aber er 
antwortete mir immer auss neue: „Die Soldaten sind ja alle meine Freunde, es ist 
keiner im ganzen Regiment, der mich erschießen würde, denn sie alle haben ihre schwache 
Stunde gehabt und werden mich schon verstehen; übrigens ist der Oberst mir ja gut 
gesinnt, er ist immer wie ein Vater zu mir gewesen, und er würde niemals zugeben, 
daß man mich hinrichtet, das ist ja alles Unsinn." 
Es wurde 4 Uhr morgens, bis ich ihn wirklich überzeugt hatte, daß es mit der Hin 
richtung ernst sei; aber selbst dann noch schien er zu glauben, daß es nur eine Art
	        
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