Volltext: Der Völkerkrieg Band 3 (3 / 1915)

140 Die Ereignisse an der Westfront von Mitte Januar bis Mai 1915 
Treffsicherheit geschleuderten Granaten so gut, daß den Franzosen für längere Zeit die 
Lust an der Weiterarbeit verging. Und so war endlich das Ziel erreicht. Der Lauf 
graben war bis zum Stein vorgeführt. Mit Sandsäcken und Schießblenden, an denen 
die feindlichen Geschosse machtlos abprallten (unsere Geschosse durchschlagen die feind 
lichen Blenden glatt), wurde die Felsgruppe zu einer regelrechten Bastion ausgebaut 
und stets stark besetzt gehalten. Als nunmehr unsere Schießposten von diesem sicheren 
Stand aus ihre Tätigkeit begannen und unsere wackeren Pioniere mit einigen gut ge 
zielten Handgranaten nachhalfen, ließen die Franzosen im Laufgraben alles stehen und 
liegen, verschwanden im Dickicht und begannen etwa 50 Meter weiter zurück einen neuen 
Schützengraben. Der unvollendete französische Laufgraben mit den darin zurückgelassenen 
Ausrüstungsgegenständen war zu verlockend für einige Wagehälse. Während unsere 
Schießposten den Feind möglichst in Schach hielten, holten jene nacheinander drei Ge 
wehre, die zerschossenen Stahlblenden, ein Käppi, das noch deutlich die Wirkung unserer 
Granaten zeigte, und anderes herbei. Auch der herübergeworfene „Matin" ließ den 
Ehrgeiz unserer Leute nicht ruhen. Durch den Laufgraben schlichen sich wiederholt ein 
paar kühne Leute bis in den französischen Schützengraben und warfen Zeitungsbündel 
mit der Kunde unserer Siege den französischen Posten möglichst aus den Kops, kamen 
auch, dank der Verblüffung der feindlichen Posten, stets unversehrt zurück. 
Die verirrte Kugel 
Von Eugen Kalkschmidt 
Der Tag hatte ein kleines Gefecht gebracht. Die Franzosen waren mit vielem Ge 
knatter vorgegangen, um eine schwach besetzte deutsche Vorpostenstellung zu nehmen. Doch 
die württembergische Landwehr ließ sich nicht verblüffen und hielt aus, bis die Ver 
stärkung da war. Nun hatten auch die Rothosen kein Vergnügen mehr an der Sache 
und zogen sich wieder in achtungsvolle Entfernung hinter ihre Drahtverhaue zurück. 
Ein kleiner Korporal, der noch eine Kugel im Lauf hatte, ärgerte sich über den Rück 
zug. Er drehte sich mit plötzlichem Entschluß um und schoß. Tausend Meter entfernt 
am Walde waren die deutschen Posten. Blindlings feuerte der kleine Korporal seine 
letzte Kugel dorthin ab, ohne zu zielen. Er wollte einfach die Kugel aus dem Lauf 
haben und den „Prussiens" zeigen, daß er böse aus sie war. 
Diese blinde Kugel aber bekam unterwegs ein Gesicht; sie ersah sich ein Ziel, das 
lebendig und ganz ahnungslos sein Schicksal erwartete. 
Es war der schwäbische Landsturm-Infanterist Gottfried Spießhofer, der soeben vor 
den Unterstand getreten war, um einen Brief im letzten Abendschein besser lesen zu können. 
Babette, sein Weib, hatte ihm geschrieben, und sie schrieb nur alle drei Wochen, denn 
sie hatte daheim die sechs Kinder, die zwei Kühe, die drei Ziegen und das übrige Vieh 
zeug ganz allein zu besorgen. 
Seit dem frühen Morgen schon trug Spießhofer den Brief ungelesen in der Tasche. 
Während der Schießerei war keine Zeit für solche Dinge gewesen. Aber in jeder Feuer 
pause hatte der Infanterist Spießhoser bedächtig in die Rocktasche gegriffen, um zu sehen, 
ob der Brief noch drin war. 
Ja, er war noch da. Und jetzt, wo die Franzosen genug hatten, jetzt wollte der 
Landsturmmann Spießhofer in Ruhe lesen, was Frau Babette von den vier Buben, den 
beiden Zwillingsmädeln und von der großen Kuh berichtete, die in diesen Tagen gekalbt 
haben mußte. 
Just als der Vater Spießhofer mit stillem Schmunzeln seinen Brief entfaltete, traf 
ihn die verirrte Kugel des zornigen kleinen Korporals mitten durch die Brust und tötete 
ihn auf der Stelle.
	        
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