Volltext: Der Völkerkrieg Band 3 (3 / 1915)

32 Die Ereignisse an der Westfront von Mitte Januar bis Mai 1915 
Kameraden vorm feindlichen Graben liegen sahen. Jetzt ging's nur noch zentimeterweise 
vorwärts. Der uns führende Unteroffizier hatte die Leiche gerade erreicht, als sich vorn 
das Gebüsch auseinanderbog und ein Franzmann nach dem Toten sah. Die Feinde 
hatten also einen Posten ausgestellt, da sie schon vermuteten, daß wir unseren Kame 
raden nicht unter freiem Himmel würden liegen lassen. Inzwischen hatte sich leider 
auch der Wind gelegt, und wir konnten nun weder vorwärts noch rückwärts, da die 
leiseste Bewegung das Laub rascheln und die trockenen Aeste knacken ließ. Und ein 
paar Meter vor uns stand der französische Posten. Die Lage war kritisch. Viertel 
stunde aus Viertelstunde verging; es mußte irgend etwas geschehen. Langsam, ganz 
langsam versuchte unser Unteroffizier einen mitgenommenen Stab vorzuschieben und den 
daran befestigten Haken an der Leiche festzumachen, aber der Haken faßte nicht. Und 
wieder und wieder guckte der französische Posten. Da setzte auf einmal ein fürchterlicher 
Gußregen ein. Wir atmeten erleichtert auf. Kurz entschlossen warf sich der Unter 
offizier einen Meter vor, packte den toten Leutnant an den Achseln und hob ihn 
um den Busch, der uns von ihm trennte. Wir anderen lagen im Anschlag auf den 
Posten, der die Bewegung und das Geräusch natürlich trotz des Regens bemerkt hatte 
und — ausriß. Nun galt es handeln. Also im Liegen das Seil um die Brust unseres 
Toten geschlungen und los! Zwei blieben im Anschlag, um den Rückzug zu decken, die 
anderen drei zogen, natürlich immer auf dem Bauche liegend, die Leiche am Seile zurück. 
Endlich hatten wir den Waldweg erreicht und konnten nun wenigstens in gebückter Stel 
lung den Rückweg antreten. Endlich war unser Graben wieder erreicht; nun noch die 
kurze Strecke bis ins Dorf, wo schon die Krankenträger mit der Bahre warteten. Da 
war es aber auch mit uns aus. Die Nervenspannung, die uns bis jetzt aufrecht ge 
halten hatte, ließ mit einem Male nach, und als uns unser Kompagniesührer mit aus 
gestreckten Händen und Tränen in den Augen entgegenkam, da habe ich geflennt wie 
ein kleines Kind und den anderen ging's nicht besser. Am Abend haben wir den Leut 
nant dann noch still beerdigt, an einer Waldecke bei La Musette, an der Kunststraße 
von Laon nach Reims. Unser Oberleutnant sprach ein paar herzliche Worte und dann 
haben wir alle zusammen ein Vaterunser gebetet." 
So erzählt ein sächsischer Schütze in einem Feldpostbrief, den die „Leipziger Neuesten 
Nachrichten" veröffentlicht haben. 
Kugeln, die nicht trafen 
Erich Oesterheld hat im „Berliner Tageblatt" aus Zeitungsberichten und Feldpost 
briefen einige Zufälle aufgefangen, bei denen der Tod vergaß, sein Amt auszuüben. 
Eine der Geschichten, die im Schützengraben sich ereignete, sei hier nacherzählt: 
„Die Soldaten stehen an der Brustwehr und suchen ihr Ziel. Granaten wühlen 
sich wie gestrandete Gleitflieger in die Erde und reißen rasend den Leib der Erde auf; 
Schrapnells stehen wie gefallene Wolken in der Luft und lassen ihre entbundene Kraft 
nach allen Richtungen herabspringen. Es ist, als gehe der Tod ringsum und suche 
seine Saat, die zur Ernte reif ist. Aber die Krieger stehen im Anstand und achten der 
Gefahr nicht. Hier und da sinkt einer getroffen zurück; auch der Nebenmann eines 
Unteroffiziers an der Brustwehr. Der beugt sich zu seinem verwundeten Kameraden 
herab und bringt ihn in eine bequeme Lage. Wie er sich wieder aufrichtet und seinem 
Nachbar zur Rechten ein paar Worte sagt, ist es ihm plötzlich, als schöbe ihm jemand 
etwas Hartes so energisch in den Mund, daß er zu ersticken glaubt. Er sinkt in die 
Knie und neigt sich, halb vom Atem abgeschnitten, nach vorn. Dabei rollte ihm etwas 
aus dem Mund in die hohle Hand ... eine unversehrte, leibhaftige Kugel... Der Tod, 
der ihn berührt, hatte ihn verschont."
	        
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