Volltext: Der Völkerkrieg Band 3 (3 / 1915)

Das russische Problem 
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nelle Regime wieder einzuführen, die Versammlungs- und Preßfreiheit sowie alle soziale 
Initiative der Demokratie und vor allem des Proletariats zu vernichten. Zur Erreichung 
dieses Ziels vermehre die Regierung die Judenverfolgungen, organisiere und unterstütze 
sie die Pogrome. Die Stärkung der demokratischen Bewegung in Rußland sei gerade 
in der jetzigen Zeit notwendig, da der Appetit der herrschenden Klassen nach fremden 
Gebieten sich steigere und die Regierung bestrebt sei, ihre reaktionäre Politik auch in 
den besetzten Gebietsteilen durchzuführen. Wenn also die russische Sozialdemokratie 
die demokratischen Fragen als unmittelbar vor ihr liegende Ausgaben der inneren 
Politik in den Vordergrund stelle, müsse sie einen Kampf gegen den von allen bürger 
lichen Parteien unterstützten Chauvinismus und besonders gegen den Deutschenhaß 
führen. Schließlich wird daraus hingewiesen, daß die russische Arbeiterbewegung trotz der 
fürchterlichen Unterdrückungen keineswegs tot sei. Auch in dieser Beziehung habe die 
Provinz weniger gelitten als Petersburg. An einzelnen Plätzen konnten gesetzliche Ar 
beiterorganisationen ausrecht erhalten werden. Man versucht, Ardeiterblätter herauszu 
geben und geheime Arbeiterorganisationen einzurichten. Aber alle diese Organisationen 
werden von der Regierung verfolgt, weil sie weiß, daß die aktive Erhebung der 
Arbeiterklasse in der allernächsten Zeit bevorsteht. 
Das russische Problem 
Der bisherige Verlauf des Krieges hat gezeigt, daß die Anschauungen, die man in 
Deutschland bisher im allgemeinen über die innerpolitischen Verhältnisse Rußlands hatte, 
den Tatsachen nur wenig entsprachen. Hatte man geglaubt, daß sich alle fortschrittlich 
gesinnten Elemente dem Streben der reaktionären Kreise, durch einen siegreichen auswär 
tigen Krieg die mühsam eingeleiteten Reformen zu hemmen, rechtzeitig widersetzen würden, 
mußte man bei Kriegsbeginn enttäuscht erkennen, daß der Krieg gegen Deutschland in 
Rußland allgemeine Zustimmung fand. Die Hoffnung, Japan werde die Gelegenheit 
benützen und sich für die Kosten des mandschurischen Krieges entschädigen, war eitel, 
ebenso die Zuversicht auf den Ausbruch innerer Unruhen oder auf die Erhebung der 
Nationalitäten oder der sremdstämmigen Grenzvölker des russischen Reiches. Es hat sich 
gezeigt, daß die Furcht vor der militärischen Kraft des Zarenreiches alle in Fesseln 
hält. Zudem haben sich die Polen, durch Versprechungen Englands und das Manifest 
des Großfürsten Nikolai Nikolajewitsch (vgl. II, S. 73) überredet, in ihrer großen Mehr 
heit aus die Seite Rußlands gestellt. Aber auch die andern Nationalitäten und Fremd 
völker, die Ukrainer, die Finnländer und die Juden, verhalten sich durchaus abwartend. 
Ausschlaggebend ist für sie alle das wirtschaftspolitische Moment, welches das 
national-kulturelle überwiegt und bei uns in Deutschland bisher fast gar nicht berück 
sichtigt worden ist. Wir dürfen nicht vergessen, daß diese Völker bei einem Eintritt in den 
Wirtschastsverband des Deutschen Reiches dem überlegenen Wettbewerb eines kulturell 
viel höherstehenden großen Volkes machtlos gegenüberstünden; sie würden daher die 
Deutschen nur dann als Befreier begrüßen, wenn zuerst die Frage, wie sich ihre wirt 
schaftliche Lage in Zukunst gestalten solle, zu ihrer Zufriedenheit gelöst wäre. 
Georg Cleinow macht in seinen „Grenzboten" den interessanten Versuch, das oft er 
örterte russische Problem von diesem ganz neuen wirtschastspolitischen Standpunkt aus 
klarzulegen. Er schreibt: „Das europäische Rußland besteht wirtschaftsgeographisch aus drei 
völlig in sich abgeschlossenen und zu selbständiger Entwicklung befähigten Gebieten: Moskowien 
(das Stromgebiet der Wolga), Südrußland (Ukraine, Stromgebiet des Don, Dnjeper und 
Dnjester) und das Nordwestgebiet (Polen, Litauen, die baltischen Provinzen mit dem 
Anhängsel Finnland; die Stromgebiete der Weichsel, des Njemen und der Düna). Diese
	        
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