Volltext: Der Völkerkrieg Band 3 (3 / 1915)

Rußlands wirtschaftliche Verhältnisse 257 
Die Lage von Industrie, Handel und Landwirtschaft in Rußland 
Sieht man von den ungeheuren finanziellen Schwierigkeiten ab, mit denen die russische 
Reichsrentei zu kämpfen hat, so konnte, wie der Handelszeitung des „Berliner Tageblatts" 
Mitte 1915 geschrieben wurde, von einem wirtschaftlichen Zusammenbruch in Rußland bis 
Anfang 1915 noch nicht die Rede sein. „Die russische Staatswirtschaft ist es gewöhnt, 
die Passivität der Handelsbilanz als eine eonältio sine qua non zu betrachten, infolge 
der geringen industriellen Leistungsfähigkeit des Landes, das seine Rohprodukte über die 
Grenze schickt, um sie als fertige Ware zurückzukaufen. Der Import ist ziemlich rege ge 
blieben; nur sind an die Stelle der deutschen Importeure englische und namentlich auch 
amerikanische getreten. Frankreich dagegen zeigt eine begreifliche Zurückhaltung... 
Die russische Industrie ist gut beschäftigt. Allerdings hat die Kaufkraft der Bevölke 
rung stark nachgelassen, dagegen fehlt es, wie begreiflich, nicht an fiskalischen Aufträgen. 
Das Kohlengewerbe ist weit über seine Leistungsfähigkeit mit Arbeit versehen; die Er 
zeugung dagegen ist infolge des Mangels an Arbeitskräften und Versandmitteln unzureichend... 
Die metallurgische Industrie zeigt eine durchaus zufriedenstellende Produktion. 
Der Bahnbau ist natürlich wenig rege; nur der Bau der Nordbahn Archangelsk— 
Wologda—Petersburg ist im Gange. Trotzdem fehlt es dank dem Bedarf der Armee nicht 
an Schienenbestellungen. Die Aufträge in Achsen, Bandagen und II-Eisen übersteigen 
die Lieserungsmöglichkeit. Die metallbearbeitende Industrie steht ganz im 
Solde des Fiskus. Namentlich wird alles daran gesetzt, rollendes Material zu fabrizieren. 
Es fehlt an Lokomotiven und Waggons. Aber trotz der technischen Vervollkommnung, 
die den russischen Fabriken dieser Branche in den letzten Jahren zuteil wurde, sind sie 
nicht entfernt imstande, den Regierungsaufträgen nachzukommen ... Auch der Dachblech- 
industrie fehlt es nicht an Aufträgen, allerdings nur von fiskalischer Seite, da die 
Bautätigkeit im Reiche vollständig brachliegt, was auch der Grund der ungünstigen 
Lage der russischen Zementindustrie ist, die nur von Staatsaufträgen lebt. 
Die Manufaktur, besonders die Tuchindustrie, ist überreichlich mit Aufträgen 
versehen, soweit Gebrauchsware in Frage kommt. Luxusware wird dagegen gar nicht 
hergestellt, und auch die Fabrikation billiger Kattune für die Landbevölkerung hält sich 
trotz des Ausscheidens der Lodzer Konkurrenz in engsten Grenzen, da die ländliche Be- 
völkerung durch den Krieg schon jetzt völlig verarmt ist ... 
Die Naphthaindustriellen sind gut beschäftigt. Die Bahnen und Fabriken haben 
enormen Bedarf. Auch die Benzinfabrikation verfügt über Regierungsaufträge mit 
hohen Preisen. Die Elektrizitätsbetriebe befanden sich, was Stromerzeugung anlangt, 
bei Kriegsbeginn großenteils in deutschen Händen. Man hat hier sequestriert, konfisziert 
und eskamotiert nach Gutdünken. Die meist in belgischen Händen befindlichen Straßen 
bahnen haben gute Erträgnisse geliefert. Allein in letzter Zeit macht sich hier wie bei 
den russischen Kommunalverwaltungen der Kohlen Mangel unangenehm bemerkbar. 
Viel weiß die chauvinistische russische Presse von einem Aufschwung der pharmazeuti 
schen Industrie zu erzählen. Doch es scheint, daß gerade dieser Versuch russischer Fabriken, 
die deutsche Fabrikation zu ersetzen, völlig mißlungen ist. Rußland hat keine Aerzte und 
keine Apotheker — das ist nichts Neues. Aber es hat auch keine Wattefabriken und kann 
die deutschen Patentwaren nur in der Aufmachung nachahmen. Die Verwundeten sagen 
denn auch: „Wir haben keine Waggons, wir haben keine Aerzte, wir haben keine Verband 
stoffe. Nur das Rote Kreuz haben wir." Auch der Mangel an optischen Gläsern 
und an Anilinfarben wird besonders schmerzlich empfunden." 
In seinem begründeten Expose zum Budgetentwurf für 1915 stellt der Finanzminister 
fest, daß die Beendigung der Mobilmachung die allmähliche Wiederherstellung des Waren 
verkehrs gestattet habe. So war der Warenverkehr auf den Eisenbahnen im November 
«öU-rkrieg. IV. 17
	        
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