Volltext: Kommentar zu den deutschen Dokumenten zum Kriegsausbruch (5 / 1920)

Am 29. Juli beurteilte auch der deutsche Generalstab die 
Lage ungünstig. In seiner Denkschrift (Weißbuch Nr. 349), 
die vor der amtlichen Bestätigung der russischen Teilmobilmachung 
geschrieben worden ist, sah er voraus, daß das Vorgehen Ru߬ 
lands notwendig die Gesamtmobilmachung in Österreich-Ungarn 
zur Folge haben werde. Dies bedeute den österreichisch-russischen 
Konflikt, der für Deutschland den Bündnisfall mit sich bringe 
und die Mobilmachung nach sich ziehe. Diese wiederum werde 
die allgemeine Mobilmachung in Rußland und, wegen der franco¬ 
russischen Allianz, auch in Frankreich zur Folge haben. Mit der 
Möglichkeit, daß Rußland ohne äußeren Anlaß und Notwendigkeit 
zur allgemeinen Mobilmachung schreiten werde, ist trotz der Ma߬ 
nahmen an der deutschen Grenze offenbar in Berlin kaum ge¬ 
rechnet worden. Den russischen Friedensbeteuerungen wurde 
wohl noch immer Gewicht beigemessen. 
Am 30. Juli nahm nach der Darstellung des Weißbuches 
in Berlin die Besorgnis zu. Bethmann Hollweg ließ Grey bitten 
Frankreich zu bewegen, seine Kriegsvorbereitungen anzuhalten, 
und in Petersburg die Annahme seiner eigenen Vorschläge durch¬ 
zusetzen. Mit einem russischen Vorgehen gegen Deutschland 
scheint man noch immer nicht gerechnet zu haben; denn England 
wird nur aufgefordert, einen russischen Aufmarsch gegen 
die österreichische Grenze zu verhindern. (Wei߬ 
buch Nr. 409.) Gleichzeitig richtete der eben erst aus London 
zurückgekehrte Prinz Heinrich, wohl im Aufträge des Kaisers, 
einen Appell an den König von England, der den gleichen Ge¬ 
dankengängen folgte: Wenn der Frieden erhalten bleiben solle, 
müßten die Kriegsvorbereitungen in Frankreich und Rußland 
angehalten werden (Weißbuch Nr. 417). Auch wandte sich der 
Kaiser nochmals an den Zaren (Weißbuch Nr. 420). Ferner tele¬ 
graphierte er an den Kaiser Franz Joseph und drang auf die An¬ 
nahme der deutschen Vermittlungsvorschläge (Weißbuch Nr. 437). 
In der Sitzung des preußischen Staatsministeriums vom 
30. Juli bezeichnete Bethmann Hollweg die Lage als nicht aus¬ 
sichtslos. „Als Politiker gäbe er... die Hoffnungen und Be¬ 
mühungen auf Erhaltung des Friedens noch nicht auf.“ (Wei߬ 
buch Nr. 456.) 
Im Laufe des 30. Juli sind auch Meldungen eingegangen, 
die die Lage wieder hoffnungsvoller erscheinen ließen. Die Wiener 
Regierung begann einzulenken (Weißbuch Nr. 432, 433, 448). 
Die englische Regierung stellte ihre Einwirkung auf Petersburg 
in Aussicht (Weißbuch Nr. 435). Ihr Versuch hierzu fiel aller¬ 
dings äußerst unbefriedigend aus (Weißbuch Nr. 460). Die Hal¬ 
tung Rußlands war nach wie vor bedrohlich. Sasonow blieb un¬ 
nachgiebig, versprach aber, daß Feindseligkeiten gegen Österreich- 
Ungarn einstweilen unterbleiben würden (Weißbuch Nr. 449).
	        
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