Volltext: Kommentar zu den deutschen Dokumenten zum Kriegsausbruch (5 / 1920)

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verwandelt sich allmählich. Die Radikalen revoltieren aus anderen Gründen 
offen gegen das Kabinett und tun alles mögliche, um die serbische Frage der 
allgemeinen Teilnahme zu entziehen. Es muß aber hinzugefügt werden, daß 
in diesem Lager nicht ein Wort laut wird, das unsere Haltung tadelte oder 
gegen den Dreiverband als solchen gerichtet wäre. Übrigens, von da bis zum 
Kriege ist es noch weit. Hieraus entsteht alles Zaudern, so scheint mir wenig¬ 
stens. Ganz England ist vollständig von Ulster in Anspruch genommen 
und fängt kaum an, zu erwachen. Seit gestern fängt es an, zu 
begreifen, daß der Krieg möglich ist; seit gestern beunruhigt es sich erst darüber. 
Daß auch England in den Krieg hineingezogen werden könnte, das kann die 
langsame englische Einbildungskraft noch nicht fassen. Das ist alles sehr 
traurig, aber es ist so. Es ist klar, daß man im englischen Auswärtigen Amt 
weiter sieht, an anderen Stellen jedoch nicht. Es will mir nicht gelingen, Grey 
die Maske abzunehmen. Ich kann Ihnen nicht versprechen, daß mir dies ge¬ 
lingen wird. Ihre Stellung ist prächtig. Die Zurückhaltung in Ihren Aus¬ 
drücken und die Vorsicht, mit der Sie das Ziel Ihrer zukünftigen Handlungen 
vorbereiten, sind wunderbar. Es ist nötig, unumgänglich notwendig für Sie, 
sich die englische Mitarbeiterschaft zu sichern. Wenn sie auch spät kommen 
wird, so wird sie doch unausbleiblich kommen. Ich wiederhole jedoch: Eng¬ 
land ist noch nicht erwacht. Es ist leicht möglich, daß Grey darunter nicht 
weniger leidet als wir; das hilft uns jedoch wenig. 
Es ist wahr, daß Österreich, wie man sagt, nicht auf einmal den Krieg 
beginnen wird. Vorläufig besteht noch ein kleiner Hoffnungsstrahl. Was 
die Rolle Deutschlands anbetrifft, so erscheint mir dieselbe in dunklerem Lichte 
als allen übrigen. Und darauf stütze ich mich eben hier: England fürchtet 
sich nicht so vor dem Vorrang Österreichs auf der Balkanhalbinsel, wie vor dem 
Vorrang Deutschlands in der Welt.“ (Deutsche Allgemeine Zeitung vom 
28. 8. 1919.) 
Am 27. Juli telegraphierte Benckendorff dagegen: 
„Die Sprache Greys ist seit heute viel klarer und merkbar fester als bis¬ 
her. Er rechnet sehr auf den Eindruck, der durch die bei der Flotte veranlaßten, 
heute veröffentlichten und Sonnabend (25. Juli) abend beschlossenen Ma߬ 
nahmen hervorgerufen wurde. Das gestern eingetroffene Telegramm Buchanans 
machte anscheinend einen sehr nützlichen Eindruck. Jedenfalls hat 
die Zuversicht Berlins und Wiens in bezug auf die 
Neutralität Englands keinen Grund meh r.“ (Prawda 
Nr. 7 vom 9. März 1919.) 
Das Telegramm Buchanans, das den ,nützlichen Eindruck“ 
hervorrief, fehlt im englischen Blaubuch! 
Der Umschwung in der Haltung der englischen Regierung 
machte sich sofort in den diplomatischen Verhandlungen be¬ 
merkbar. Während sie bisher erklärt hatte, sich in den öster¬ 
reichisch-serbischen Zwist nicht hineinmischen zu wollen, schlug 
sie nunmehr eine Botschafterkonferenz in London 
zur Lösung der österreichisch - serbischen Frage vor. Die 
erste Nachricht von diesem Vorschlag Greys gelangte am 27. Juli 
in dem wenig klaren Telegramm Lichnowskys (Weißbuch Nr. 236) 
nach Berlin. Seine Annahme hätte die Aufgabe der Lokalisierungs¬ 
politik bedeutet. Die deutsche Regierung lehnte es ab, die Schwen¬
	        
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