Der Begriff der Religion.
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Todtenfeier und die innere Reue und Buße. Diesen Formen ent
sprechen die Arten der Opfer: das Opfer der Früchte und Thiere, das
Opfer der Arbeit und Werke, das Sühnopfer, das Todtenopfer und
das Opfer des eigenen und eigensüchtigen Herzens. Dieses letzte ist
von allen Opfern das höchste und wahrste, denn es gilt im eigentlichen
Sinn ohne alle Bildlichkeit.
3. Das Verhältniß der Religion zum Staat«
Die Religion erstrebt im Cultus die Reinheit und Lauterkeit der
Gesinnung, d. i. die Sittlichkeit, die sich in der Welt als Staat
realisirt, daher hängen Religion und Staat auf das genaueste zusammen
und vereinigen sich im Begriff und Endzweck der Freiheit. „Es ist
ein Begriff der Freiheit in Religion und Staat. Dieser eine Begriff
ist das Höchste, was der Mensch hat, und er wird von dem Menschen
realisirt. Das Volk, das einen schlechten Begriff von Gott hat, hat
auch einen schlechten Staat, schlechte Regierung, schlechte Gesetze."
Die Religion will die Freiheit von der Welt, der Staat will die
Freiheit in der Welt: beide Auffassungen der Freiheit können sich sehr
wohl mit einander vertragen, aber sie können auch durch die Art und
Weise ihrer Organisation in einen solchen Widerstreit gerathen, daß
sie sich entzweien und einen schroffen Gegensatz bilden. Diese
einander feindlichen Organisationen sind von seiten der Religion die
mittelalterliche, hierarchisch verfaßte Kirche, von seiten des Staats
der moderne Staat, die repräsentative oder constitutionelle Monarchie.
Die Freiheit von der Welt besteht in der Heiligkeit, die Freiheit in
der Welt besteht in der Sittlichkeit. Das Thema der Heiligkeit ist
die Weltentsagung, die Flucht aus der Welt; das Thema der Sitt
lichkeit ist die Verwirklichung der großen und gemeinsamen Zwecke der
Menschheit in der Welt: in Familie, Gesellschaft, Staat und Völkerleben.
Der Gegensatz zwischen Religion (Kirche) und Staat läuft hinaus
auf den Gegensatz zwischen Heiligkeit und Sittlichkeit. Die Sittlichkeit
fordert die Gründung der Ehe und Familie, die Heiligkeit fordert
die Ehelosigkeit; die Sittlichkeit fordert die Arbeit und deren mannich-
faltige Verzweigung im Dienste der Menschheit, die Frucht der Arbeit
ist der Besitz und die auf die Arbeit gegründete bürgerliche Selbst
ständigkeit und Rechtschaffenheit, die Heiligkeit dagegen fordert die
Besitzlosigkeit und die Armuth; die Sittlichkeit fordert die per
sönliche Freiheit und Selbständigkeit, die Heiligkeit dagegen