Volltext: Hegels Leben, Werke und Lehre. [8. Band. Zweiter Theil] (8,2 / 1901)

740 Die Philosophie der Geschichte. 
Die reflectirte Geschichtschreibung gründet sich auf vorhandene 
Geschichtswerke, woraus.für irgend einen bestimmten subjectiven Zweck 
historische Schriften verfaßt, d. h. compilirt werden. Dieser Zweck ist 
ein vierfacher: entweder man hat den Zweck, die allgemeine Geschichte 
eines Volks oder einer Zeit zu schreiben, wie z. B. Livius und Dio- 
dorus von ©teilten die römische Geschichte geschrieben haben, Johannes 
von Müller seine Schweizergeschichte; oder der Zweck ist pragmatisch 
und soll z. B. der politischen oder moralischen Belehrung dienen; oder 
der Zweck ist kritisch, man schreibt Geschichte, um den Werth und 
Wahrheitsgehalt vorhandener Geschichtswerke zu prüfen und festzustellen; 
oder endlich es handelt sich um gewisse Seiten und Richtungen der 
menschlichen Cultur, die in ihrer Allgemeinheit für sich dargestellt sein 
wollen, wie Kunstgeschichte, Religionsgeschichte, Rechtsgeschichte u. s. f. 
Hegel nennt diese vierte Art der reflectirten Geschichtschreibung „Be 
griffsgeschichte". Da man solche Zweige der Geistesbildung nicht 
darstellen kann, ohne den ganzen Baum und Zusammenhang der 
Cultur, den Standpunkt und die Stufe des Weltgeistes zu kennen und 
gleichsam mitdarzustellen, so grenzt diese letzte Art der reflectirten 
Geschichtschreibung schon an die philosophische und bildet den Ueber- 
gang zu dieser. 
Wie subjectiv und dem Geiste der beschriebenen Zeit fremd sich 
der reflectirte Geschichtschreiber verhält, merkt man sogleich, wenn man 
z. B. den Livius mit dem Polybius und Joh. v. Müller mit dem alten 
Chronisten Tschudy vergleicht. Livius läßt die alten Könige Roms, 
die Konsuln und Heerführer Reden halten, wie sie einem gewandten 
Advocaten der livianischen Zeit zukommen. Johannes von Müller habe 
seiner Geschichte in dem Bestreben, den Zeiten, die er beschreibt, treu in 
seiner Schilderung zu sein, ein hölzernes, hohlfeierliches, pedantisches 
Aussehen gegeben. Man liest in dem alten Tschudy dergleichen viel 
lieber: alles ist naiver und natürlicher, als in einer solchen bloß ge 
machten aflectirten Alterthümlichkeit. — Was aber die sogenannte prag 
matische Geschichtschreibung zum Zweck der politischen und moralischen 
Belehrung betrifft, so ist dieselbe im Grunde ganz unnütz, weil sie 
ihren Zweck nicht erfüllt: „Man verweist Regenten, Staatsmänner, 
Völker vornehmlich an die Belehrung durch die Erfahrung und Ge 
schichte, Was die Erfahrung aber und die Geschichte lehren, ist dieses, 
daß Völker und Regierungen niemals etwas aus der Geschichte gelernt 
und nach Lehren, die aus derselben zu ziehen gewesen wären, gehandelt
	        
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