Volltext: Hegels Leben, Werke und Lehre. [8. Band. Zweiter Theil] (8,2 / 1901)

Die Sittlichkeit. 
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Da in den ständischen Versammlungen oder Kammern die öffent 
lichen Angelegenheiten, welche das ganze Volk angehen und interessiren 
sollen, berathen werden, so ist es nothwendig, daß diese Verhandlungen 
öffentlich stattfinden; erst dadurch entsteht eine Theilnahme an den 
öffentlichen Fragen, eine Einsicht in die Zustände des Staats, eine 
Kenntniß politischer Dinge und Talente und eine Fähigkeit darüber 
zu urtheilen: kurz es entsteht derjenige Charakter und Reichthum von 
Vorstellungen, welchen man politische Bildung nennt. „Die Oeffent- 
lichkeit der Ständeversammlungen ist ein großes, die Bürger vorzüglich 
bildendes Schauspiel." „Erst durch die Bekanntmachung eines jeden 
ihrer Schritte hängen die Kammern mit dem Weiteren der öffentlichen 
Meinung zusammen, und es zeigt sich, daß es ein anderes ist, was 
sich jemand zu Hause bei seiner Frau oder seinen Freunden einbildet, 
und wieder ein anderes, was in einer großen Versammlung geschieht, 
wo eine Gescheidtheit die andere auffrißt." 1 
„Die öffentliche Meinung ist die unorganische Weise, wie sich das, 
was ein Volk will und meint, zu erkennen giebt. Aber zu allen 
Zeiten war die öffentliche Meinung eine große Macht und ist es be 
sonders in unserer Zeit, wo das Princip der subjectiven Freiheit diese 
Wichtigkeit und Bedeutung hat. Was jetzt gelten soll, gilt nicht mehr 
durch Gewalt, wenig durch Gewohnheit und Sitte, wohl aber durch 
Einsicht und Gründe." In der öffentlichen Meinung mischt sich das 
Wesentliche mit dem Unwesentlichen, der gesunde Menschenverstand mit 
dem nichtigen Geschwätz, die Wahrheit mit endlosem Irrthum, sie ist 
beides zugleich: höchst achtungswerth und ganz verächtlich. In ihrer 
Wahrheit redet die Stimme Gottes, weshalb man mit Recht sagt: 
«vox populi vox Dei», und zugleich der blinde Pöbelwahn, weshalb 
Goethe mit Recht gesagt habe: „Zuschlagen kann die Masse, da ist sie 
respektabel, Urtheilen gelingt ihr miserabel". „In der öffent 
lichen Meinung ist alles Falsche und Wahre, aber das Wahre in ihr 
zu finden, ist die Sache des großen Mannes. Wer, was seine Zeit 
will und ausspricht, ihr sagt und vollbringt, ist der große Mann der 
Zeit. Er thut, was das Innere und Wesen der Zeit ist, verwirklicht 
sie, und wer die öffentliche Meinung, wie er sie hier und da hört, 
nicht zu verachten versteht, wird es nie zu Großem bringen." „Die 
Unabhängigkeit von ihr ist die erste formelle Bedingung zu etwas 
* Ebendas. § 315. Zus. S. 400.
	        
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