Volltext: Diplomatische Geheimakten aus russischen, montenegrinischen und sonstigen Archiven (Band II 1929)

Nr. 959. 
Der bulgarische Gesandte Tschapratschikow, Belgrad, 
an das Ministerium des Äußern in Sofia.1) 
Belgrad, den n./24. Juli 191/i« 
Gestern um 6 Uhr abends hat der österreichische Gesandte Baron 
Giesl dem Finanzminister Patschu, Vertreter des auf einer Wahlrund¬ 
reise im Inneren befindlichen Paschitsch, eine Note wegen des Attentats 
von Sarajewo übergeben. Patsch u hat die Note in Empfang genommen 
und, ohne sie zu öffnen, dem Baron Giesl gesagt, er werde sie Paschitsch 
und dem Ministerrate übergeben, worauf man sie besprechen und ant¬ 
worten werde. 
Heute früh sah ich den österreichischen Gesandten. 
Mit Bezug auf den Inhalt der Note sagte er mir, er habe unerbitt¬ 
lichen Befehl aus Wien, sie auf das strengste geheim zu halten, deshalb 
habe er nicht einmal dem deutschen Gesandten ein Wort mitgeteilt. 
Doch weiß Giesl, daß die königliche Regierung über ihren Inhalt von 
dem soeben zurückgekehrten Grafen Tarnowski1 2) vollkommen unterrich¬ 
tet ist. Die Note ist auf 48 Stunden befristet, und diese Frist läuft mor¬ 
gen abend um 6 Uhr ab. Giesl beurteilt die Sache als sehr kritisch und 
rechnet mit seiner Abberufung zusammen mit dem ganzen Gesandt¬ 
schaftspersonal. Die gestellten Forderungen sind schwer. Der volle Text 
der Note ist gestern abend oder heute früh in Wien veröffentlicht 
worden. 
Darauf sah ich den deutschen Gesandten, mit dem wir gestern abend 
bis 1 i Uhr zusammen waren. Er bestätigte, daß ihm Giesl nichts mit¬ 
geteilt habe, aber in Berlin sei man vollkommen unterrichtet. (?) Auch er 
weiß, daß die österreichischen Forderungen sehr schwer sind, und hält 
die Lage für sehr ernst und gefährlich. Ihm zufolge würden die Öster¬ 
reicher eine Dummheit begehen, wenn sie nicht die letzte günstige Ge¬ 
legenheit benutzten, um ein für allemal ihre Rechnung mit den Serben 
zu begleichen; aber nach langer Zeit biete sich ihnen nun dieser günstige 
Augenblick, und sie hätten auch unsere volle Unterstützung. Der deutsche 
Gesandte hat für jetzt keine Schritte zu tun. Er bleibt in der Expektative. 
Hierauf war ich im Ministerium der Auswärtigen Angelegenheiten. 
Dort fand ein Ministerrat statt und dauerte noch an, unter dem Vorsitze 
des Thronfolgers. Paschitsch ist heute früh zurückgekehrt. Alle Be¬ 
amten des Ministeriums sind niedergeschlagen, geknickt, erschrocken, 
wie ich sie nie gesehen habe. Der Generalsekretär teilte mir mit, daß 
die Note außerordentliche Forderungen enthält, die die Lage kritisch 
1) Bulgarisches Orangebuch Bd. 1 Nr. 2o3. 
2) Österreichisch-Ungarischer Gesandter in Sofia. 
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