Nr. g38.
Der bulgarische Gesandte Toscheff, Konstantinopel,
an das Ministerium des Äußern in Sofia.x)
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o.Juli
Marquis Pallavicini* 2), den ich heute sah, sagte mir, er befürchte, die
Ermordung des österreichischen Thronfolgers werde gefährliche Folgen
für die innere und äußere Politik der Monarchie nach sich ziehen. Bezüg¬
lich der inneren Politik fürchtet er, die antiserbische und bis zu einem
gewissen Grade auch antirumänische Bewegung möchte hauptsächlich von
seiten der Ungarn eine Verstärkung erfahren, die in der Person des auf
tragische Weise umgekommenen Thronfolgers mit Recht einen Be¬
schützer der Rumänen und sogar auch der Serben ge¬
sehen hätten. Das sei auch die Hauptursache gewesen, weshalb der
Erzherzog Franz Ferdinand sich nicht der Sympathien der Ungarn er¬
freut habe. Insbesondere hätten diese nichts von dem sogenannten Tria¬
lismus hören wollen, der einen der politischen Träume des verstorbenen
Fürsten gebildet habe. Mit der Verwirklichung dieser Idee habe er ein
noch größeres Gleichgewicht zwischen Österreich und Ungarn und eine
Minderung des Ansehens des serbischen Elements außerhalb der Grenzen
des Kaiserreichs durch Stärkung desselben Elements im Reiche selbst
verfolgt.
Marquis Pallavicini befürchtet, der Haß, der sich seit Jahren gegen die
Serben hauptsächlich in Bosnien und der Herzegowina aufgehäuft habe,
möchte sich in einer Weise äußern, die ernste innere Unruhen herbei¬
führen könnte. Alle diejenigen Elemente, ohne Unterschied der Religion
und der Nationalität, die aus dem einen oder anderen Grunde Haß
gegen einzelne Serben nähren, würden selbstverständlich die Gelegenheit
benutzen, um sich zu rächen, indem sie sich dabei zu Plünderungen
und allen möglichen anderen Ausschreitungen hinreißen ließen.
Vom Gesichtspunkte der äußeren Politik aus befürchtet der Herr Bot¬
schafter die Komplikationen, die mit der formellen Abdankung des
Königs Peter, mit der Vereinigung Serbiens mit Montenegro sowie auch
mit der obligatorischen und endgültigen Lösung der albanischen Frage
eintreten könnten. Der Funken könnte leicht gerade von der Seite auf-
kommen und diesmal auch außerhalb der Balkanhalbinsel einen Brand
entzünden. Dies bilde heute den schwärzesten Punkt am Horizonte. Daß
Albanien zwischen Serbien und Griechenland geteilt würde, würden
*) Bulgarisches Orangebuch Bd. I, Nr. 191, S. 109.
Deutsche Übersetzung „Kriegsschuldfrage“, März 1928.
2) Österreichisch-ungarischer Botschafter in Konstantinopel.
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