Volltext: Diplomatische Geheimakten aus russischen, montenegrinischen und sonstigen Archiven (Band II 1929)

Nr. 885. 
Der Botschafter in Wien von Tschirschky an den 
Reichskanzler von Bethmann Hollweg. *) 
Ausfertigung. 
Nr. 346. Wien, den 6. November 1913. 
Als ich heute nachmittag den Grafen Berchtold aufsuchte, sagte er 
mir, soeben habe ihn König Ferdinand von Bulgarien verlassen. Irgend 
etwas Konkretes sei aus seiner Unterhaltung mit Seiner Majestät nicht 
zu entnehmen gewesen. In seiner gewohnten Weise hätte der König sich 
in schön gesetzten französischen Phrasen ergangen, in denen er sein 
Leid geklagt hätte über das große Unglück, das ihn und sein Land be¬ 
troffen habe1), über all die schönen Pläne, die er für Bulgarien gehabt 
und die nun hätten unerfüllt bleiben müssen. In längerer Ausführung 
habe er dann die Verdienste hervorgehoben, die er sich um Österreich- 
Ungarn erworben habe2)**), besonders dadurch, daß es ihm gelungen 
sei, dem Panslawismus einen entscheidenden Schlag zu versetzen3). 
Ihm sei es auch zu danken, daß der Balkanbund gesprengt 
worden sei. Über die Geschichte des Beginns des zweiten Balkan¬ 
krieges habe sich der König im einzelnen nicht ausgesprochen. Für den 
unglücklichen Ausgang des Krieges habe er aber in erster Linie Ru¬ 
mänien verantwortlich gemacht, dessen Vorgehen jede Aktion Bulgariens 
lahmgelegt hätte. Ein Widerstand Rumänien gegenüber — auch beim 
Übergang über die Donau — sei unmöglich gewesen. Dem Grafen 
Berchtold gegenüber hat der König versichert, er habe, soweit es in 
seinen Kräften gestanden, versucht3), eine von russischen Ein¬ 
flüssen freie Politik zu machen. 
Der Minister bemerkte weiter, er habe sich den Ausführungen des bul¬ 
garischen Königs gegenüber in der Hauptsache zuhörend verhalten. Als 
Seine Majestät dann am Schlüsse seinem Wunsche und seiner Hoffnung 
Ausdruck gegeben habe, in gute und intimere4) Beziehungen zur 
*) Die Große Politik Bd. 3g, Nr. 16799, S. 453. 
**) Anspielung auf die bulgarisch-serbische Militärkonvention vom 29. April 1912 
(vgl. dazu Bd. XXXIII, Kap. CCLXI), die in Artikel III bestimmte: „Falls Österreich- 
Ungarn Serbien angreifen sollte, verpflichtet sich Bulgarien, Österreich-Ungarn sofort 
den Krieg zu erklären und seine Truppen in Stärke von 200000 Mann auf serbisches 
Gebiet zu entsenden und gemeinsam mit der ^serbischen Armee offensiv und defensiv 
gegen Österreich-Ungarn operieren zu lassen.“ Die Militärkonvention wurde kurz dar¬ 
auf am 25. November durch den Pariser „Matin“ veröffentlicht. Vgl. Schultheß 
Europäischer Geschichtskalender Jg. I9i3, S. 757 ff. Da der Direktor des „Matin“, 
Bunau-Varilla, nahe Beziehungen zu dem Anfang November in Paris weilenden bul¬ 
garischen Außenminister Genadiew unterhielt (vgl. den Brief Iswolskis an Sasonow vom 
6. November 1913, Der Diplomatische Schriftwechsel Iswolskis 1911—1914, ed. Fr. 
Stieve, III, 335), kann kaum ein Zweifel darüber bestehen, daß die Veröffentlichung 
mit Vorwissen und auf Veranlassung Genadiews erfolgte. 
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