Prüfsteines der politischen Reife der balkanischen Verbündeten zu spie¬
len. Würden sie diese nicht bestehen, so ergäbe sich für sie eine uner¬
trägliche Lage, die für uns nicht minder kompliziert wäre. Alle Be¬
mühungen Österreichs sind im gegenwärtigen Augenblick darauf ge¬
richtet, die Bulgaren sowohl uns als den Serben zu entfremden, und in
diesem Bestreben ist es unerschöpflich in seinen Mitteln. Sie kennen die
Psychologie der Bulgaren und werden sich daher nicht wundern, wenn
ich Ihnen sage, daß es in dieser Hinsicht bereits einiges erreicht hat. ln
Sofia beginnt man, sich uns gegenüber mit einigem Mißtrauen zu ver¬
halten, wenn man auch anscheinend noch auf unsere Unterstützung bei
der Beilegung des Streites mit den Serben hofft, ungeachtet der von
den Österreichern ausgestreuten Gerüchte, daß die Entscheidung des
Streitfalles unverweigerlich den Serben volle Befreiung bringen müsse.
Wir sind fest entschlossen, uns der Rußland durch den serbisch-bul¬
garischen Vertrag zugewiesenen Schiedsrichterrolle nicht zu entschlagen*
da wir einen anderen friedlichen Ausweg nicht erblicken. Die Grund¬
lage unserer Entscheidung besteht einzig und allein im Texte des Ver¬
trages selbst, von dem wir im wesentlichen nicht werden abgehen kön¬
nen; hierin bestärken mich auch die mir kürzlich bekannt gewordenen'
ergänzenden Abmachungen zwischen den Generalstabschefs der beiden
Armeen. Ich fürchte sehr das Umsichgreifen der Enttäuschung bei den
Serben über das Ergebnis ihrer jüngsten heroischen Anstrengungen. Bei
diesem uns von allen Slawenvölkern sympathischsten Volke
bildet sich anscheinend die Meinung heraus, daß es vom Schicksal ver¬
folgt sei, daß sich Rußland ihm gegenüber teilnahmslos verhalte usw.
Eine solche Stimmung ist äußerst gefährlich, und ich bitte Sie, Ihren gan¬
zen Einfluß auf die serbische Regierung und die öffentliche Meinung an¬
zuwenden, um sie zu zerstreuen. Zwischen Serbien und Bulgarien irn
Zusammenhang mit der neuen Lage auf dem Balkan vollen Parallelismus
herzustellen, ist unmöglich, und es ist nicht möglich, daß die Serben
dies nicht einsehen. Bulgarien hat durch seine Siege seine nationalen
Ideale zur Gänze verwirklicht. Weitergehen kann es nicht, ohne in Kon¬
flikt mit viel mächtigeren Nachbarn zu geraten. Serbien aber hat
erst das erste Stadium seines historischen Weges durch¬
laufen, und zur Erreichung seines Zieles muß es noch
einen furchtbaren Kampf aushalten, bei dem seine ganze
Existenz in Frage gestellt werden kann. Serbiens ver¬
heißenes Land liegt im Gebiete des heutigen Österreich-
Ungarn und nicht dort, wohin es jetzt strebt, und wo auf seinem Wege
die Bulgaren stehen. Unter diesen Umständen ist es ein Lebensinteresse
Serbiens, einerseits die Bundesgenossenschaft mit Bulgarien zu erhal¬
ten, und andererseits sich in zäher und geduldiger Arbeit in den erfor¬
derlichen Grad der Bereitschaft für den in der Zukunft unausweich¬
lichen Kampf zu versetzen. Die Zeit arbeitet für Serbien und
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