Ministergehilfe nahm Mitteilung mit Bemerkung entgegen, die Kaiser¬
liche Regierung betrachte unsem Schritt als aus unserem freien Willen
hervorgegangene Aktion, deren Motivierung vollkommen anerkannt
werde, durch welche aber Berliner Vertrag modifiziert erscheine, daher
Entscheidung der Mächtekonferenz zustehe.
Nr. 432.
Der Geschäftsträger in Belgrad Prinz Julius Ernst
zur Lippe an den Reichskanzler Fürsten vonBülow.1)
Ausfertigung.
Nr. 107. Belgrad, den 8. Oktober 1908.
Herr Milowanowitsch, der einen sehr niedergeschlagenen Eindruck
macht, verhehlte mir heute nicht, daß er mit großer Sorge den nächsten
Tagen entgegensehe. Die Annexion von Bosnien und Herzegowina habe
das serbische Volk an seiner verwundbarsten Stelle getroffen. Die Er¬
regung sei in der Bevölkerung nach wie vor sehr groß, und man könne
nicht wissen, wohin sie führen werde. Mit großer Spannung sieht der
Minister der für übermorgen anberaumten außerordentlichen Tagung
der Skupschtina entgegen, denn er befürchtet, wohl nicht mit Unrecht,
daß die Mehrzahl der Abgeordneten durch das Volk aufgehetzt, ener¬
gische Maßregeln gegen den „dem serbischen Volke angetanen Affront“
verlangen werde. Infolgedessen würde es wahrscheinlich zu einem Ka¬
binettswechsel kommen, da das jetzige Ministerium sich vor die Un¬
möglichkeit gestellt sähe, sein aufgestelltes Programm durchzuführen.
Ein Zeichen der Unzufriedenheit mit seiner Leitung der Geschäfte
hat Herr Milowanowitsch heute schon über sich ergehen lassen müs¬
sen. Eine große Volksmenge demonstrierte vor dem Ministerium des
Äußern, bewarf dessen Fenster mit Steinen und entsandte eine Ab¬
ordnung zu Milowanowitsch, die ihre Mißbilligung über seine bisherigen
Schritte in der Annexionsfrage aussprach und von ihm verlangte, dem
Willen und Wunsche des Volkes energischer Ausdruck zu geben.
Herr Milowanowitsch ist der Ansicht, daß den Wünschen des Volkes
nicht nachgegeben werden darf, und er wird, falls die Skupschtina
kriegerische Absichten haben und deshalb mit dem bisherigen Verhalten
der Regierung nicht einverstanden sein sollte, gern sein Portefeuille nie¬
derlegen. Er glaubt aber, daß auch eine andere Regierung sich auf wag¬
halsige Unternehmungen nicht wird einlassen wollen, und hofft, daß
das Volk, wenn es seine Wünsche von dem neuen Ministerium gleich¬
falls nicht erfüllt sieht, zur Besinnung und Beruhigung kommen wird.
1) Die große Politik Bd. 26 (I. Hälfte) Nr. 9097 S. 255 ff.
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