Volltext: Diplomatische Geheimakten aus russischen, montenegrinischen und sonstigen Archiven (Band II 1929)

Nr. 734. 
Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes 
von Kiderlen an den Botschafter in London 
Fürsten von Lichnowsky.1) 
Konzept. 
Telegramm. Berlin, den 6. Dezember 1912. 
Nr. 211. 
Antwort auf Telegramm Nr. 199 2). 
Zur Verwertung. 
Sir Edward Grey scheint noch immer zu glauben, wir hätten Rußland 
bei bosnischer Krise durch Drohungen zum Rückzug gezwungen. 
Diese Behauptung ist längst widerlegt3) und ihre Haltlosigkeit wäre 
publici iuris, wenn nicht Iswolski die damals von uns wieder¬ 
holt beantragte Veröffentlichung sämtlicher Doku¬ 
mente konstant verweigert hätte. 
Auch jetzt denkt niemand daran, Rußland zum Rückzug zu zwingen. 
Donaumonarchie hat ausschließlich mit Serbien zu tun, wo sie als un¬ 
mittelbare Nachbarin besondere Interessen mit gleichem Rechte in An¬ 
spruch nimmt wie Frankreich seinerzeit als Herr Algeriens in Marokko, 
England kraft ägyptischer Stellung in Syrien oder Arabien; Grey selbst 
anerkennt, mit welcher Langmut und Mäßigung trotz fort¬ 
gesetzter serbischer Provokation österreichische Regie¬ 
rung Interessen ge it end macht. Sie hat Besetzung Sandschaks, 
Eroberung Mazedoniens, militärisches Vordringen an Adria geduldet. 
Ihre durch Lebensinteressen gebotene Forderung autonomen Albaniens, 
die gleichzeitig endgültigen serbischen Territorialbesitz an Adria aus¬ 
schließt, wird von allen Mächten, auch vom offiziellen Rußland als be¬ 
rechtigt anerkannt. Gleichwohl hat Österreich, englischer Anregung fol¬ 
gend, Durchsetzung selbst jener wahrlich bescheidenen Minimalforde¬ 
rung vertagt. Dies wird auch weiter geschehen, solange ser¬ 
bische Herausforderungen es zulassen und andere Mächte 
nicht gegen Österreich Partei nehmen. 
Opfer an Interessen oder Prestige werden von Rußland nicht verlangt. 
Billigerweise darf aber erwartet werden, daß materiell unbeteiligtes 
Zarenreich nicht Österreich an Verteidigung Existenz und Ansehen hin¬ 
dert. Derartige selbstverständliche Reserve wäre Rückzug nur dann, 
wenn Rußland sich bereits in österreich-feindlichem Sinne für übertrie- 
*) Die Große Politik Bd. 33, Nr. 12 482, S. 454- 
2) Siehe Nr. 12 48i. 
3) Vgl. dazu Bd.26, Kap.CCIV. 
22 Boghitscliewitsch, Serbien II. 
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