sich, ob es angehe, Rußland ganz zu übergehen, und ob es doch nicht
angezeigt wäre, sich vorher Klarheit über Rußlands Absichten zu ver¬
schaffen.
Er habe den Gedanken dem Erzherzog-Thronfolger heute früh unter¬
breitet, ob es sich nicht empfehlen würde, einen Vertrauensmann an
Kaiser Nikolaus zu entsenden, der die Aufgabe haben würde, nicht etwa
Rußland um Einwirkung auf Serbien zu bitten, aber dem Zaren die
Sachlage klar auseinanderzusetzen und an seine Friedensliebe zu appel¬
lieren. Es komme ihm besonders darauf an, in Petersburg den Ein¬
druck nicht aufkommen zu lassen, als wolle Österreich das kleine Ser¬
bien überfallen, um das schuldlose Opfer zu vergewaltigen. Der Erz¬
herzog habe diesen Vorschlag gutgeheißen. Der Minister war sich über
die Nützlichkeit dieses Schrittes noch nicht klar und fragte mich um
meine Meinung. Ich habe mich selbstverständlich jeden Ratschlusses
enthalten, glaube aber, daß er eine Äußerung des Berliner Kabinetts
darüber, wie man dort eine solche Mission nach Petersburg beurteilen
würde, gern hören werde1).
Der Minister äußerte zum Schluß, er mache sich über den Ernst der
Lage keine Illusion, aber auch der Erzherzog sei der Ansicht gewesen,
daß man sich von den Serben nicht alles gefallen lassen könne, und daß
insbesondere die Frage des serbischen Hafens am Adriatischen Meer
für Österreich von vitalem Interesse sei.
„Unter einer Bedingung allerdings,“ fuhr der Minister fort, „würde
ich die ganze Hafenfrage fallen lassen, wenn wir Valona bekommen
könnten* 2). (?!) Das würde unsere Stellung an der Adria so stärken,
daß wir den Serben ruhig den Hafen gönnen könnten. Allerdings glaube
ich, daß dieser Wunsch nicht erfüllbar ist, schon mit Rücksicht auf
Italien.“ Tschirschky.
Nr. 708.
Der russische Botschafter in Paris
an den russischen Außenminister.3)
Geheimtelegramm Nr. 36g. Paris, den 4-/17- November 1912.
Fortsetzung von Telegramm Nr. 368.
In einer Unterredung über die französische Antwort auf meine Mit¬
teilungen hinsichtlich des österreichisch-serbischen Streitfalles antwortete
x) Vgl. auch Auffenberg-Komarow, Aus Österreichs Höhe und Niedergang, S. 217!:.
2) Zu einem ähnlichen Standpunkte bekannte sich sogar General von Conrad, Aus
Meiner Dienstzeit II, 338. Kriegsminister Auffenberg wäre auch ohne Valona für
einen serbischen Hafen am Adriatischen Meer zu haben gewesen; siehe seine Tage¬
buchaufzeichnung zum 6. November, Aus Österreichs Höhe und Niedergang, S. 2i3f.
Gegen die serbischen Wünsche war nach Auffenbergs Angaben (a. a. 0., S. 2i5) vor
allem der Erzherzog-Thronfolger.
3) Iswolski Bd.II, Nr. 567, S.346.
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