Nr. 689.
Der Botschafter in Rom von Jagow
an den Reichskanzler von Bethmann Hollweg.1)
Ausfertigung.
Nr. 44o. Rom, den 9. November 1912.
(pr. i3. November.)
Bei einem Besuche, den mir der serbische Geschäftsträger1 2) machte,
setzte er mir auseinander, daß Serbien durchaus einen Zugang zum Meere
erhalten müsse, und zwar zum Adriatischen, da dies aus verschiede¬
nen Gründen nach dem Ägäischen Meere nicht angängig wäre. Eine
völlige Selbständigkeit Albaniens wäre wegen der dortigen Zustände doch
unmöglich, es würde eine Anarchie werden; wenn man die „Integrität“
und „Autonomie“ Albaniens wahren wolle, würde es am besten mit einer
autonomen Verfassung unter die „Vormundschaft“ Serbiens gestellt.
Nur so könne das Prinzip: „Der Balkan den Balkanvölkern“ wirklich zur
Durchführung kommen, denn sonst würden sich doch nur fremde Ein¬
flüsse (österreichische oder italienische) in dem politisch noch gänzlich
unreifen Lande geltendmachen. Herr Michailowitsch betonte zwar wie¬
derholt, daß er nur seine eigenen Gedanken äußere; der Wunsch,
ganz Albanien für Serbien als Kriegsbeute zu gewinnen,
trat aber deutlich hervor und dürfte wohl auch in Bel¬
grad gehegt werden.
Ich habe Herrn Michailowitsch nicht im Zweifel darüber gelassen,
daß solche Wünsche wie überhaupt ein Vordringen Serbiens zur Adria
mit den Interessen anderer nicht vereinbar wären und auf entschiedenen
Widerspruch stoßen würden. Er entgegnete, das nehme er leider auch
wahr, aber wenn Serbien nun Albanien besetze, wer werde es denn daraus
verdrängen? Der Krieg habe bereits andere faits accomplis geschaffen,
und, falls weitergehende Komplikationen daraus ent¬
ständen, könne es Serbien ja eventuell darauf ankommen
lassen. Vielleicht wäre dies nicht einmal ein Nachteil für Serbien.
Ohne es auszusprechen, schien der Geschäftsträger entschieden auf
eine russische Unterstützung der serbischen Aspira¬
tionen zu hoffen.
von Jagow.
1) Die Große Politik Bd. 33, Nr. 12 362, S. 3i8.
2) Michailowitsch.
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