Nr. 595.
Vertraulicher Bericht des russischen Geschäftsträgers
in Wien an den stellvertretenden russischen Außen¬
minister1)
vom 2./i5. August 1912.
Nach Empfang Ihres Telegrammes Nr. 1487 habe ich nicht verfehlt,
Berchtold bei der ersten Gelegenheit nach seiner Ansicht über die Vor¬
gänge auf dem Balkan zu befragen. Aus meiner Unterredung mit dem
Minister habe ich den Eindruck gewonnen, daß er nicht weniger als wir
den Konflikt zu lokalisieren wünscht. Die Gefahr dieses Konfliktes er¬
blickt er nicht nur in dem letzten montenegrinischen Grenzzwischenfall,
sondern in den Metzeleien von Kotschane, welche ein aktives Eingreifen
Bulgariens hervorrufen könnten. Den Schlüssel zu der politischen Lage
sieht er in Konstantinopel: gelänge es der Regierung, sich zu halten, so
bestehe Hoffnung, daß der Konflikt lokalisiert würde. Es sei jedoch un¬
möglich, die Folgen einer Anarchie oder sogar längerer Wirren vorher¬
zusehen.
Zu obigem erlaube ich mir, folgende Erwägungen hinzuzufügen: Ob¬
wohl hier zweifellos eine unruhige Militärpartei besteht, und obwohl
Österreich ebenso unzweifelhaft vorbereitende Maßregeln getroffen hat,
über die ich in meinem Bericht Nr. 29 Einzelheiten mitgeteilt habe, so
bin ich doch überzeugt, daß kein ernster Grund zur Befürch¬
tung vorliegt, daß Österreich im jetzigen Zeitpunkt ag¬
gressive Ziele auf dem Balkan verfolgt. Man weiß hier wohl,
zu welchen Folgen eine solche Politik führen kann: sie wäre das Signal
zum europäischen Kriege. Ein solcher Krieg ist für Österreich zu gefähr¬
lich, als daß es ebenso wie irgendein anderes Land mit vollem Bewußt¬
sein eine solche Katastrophe hervorrufen würde.
Für Österreich ist der Krieg vielleicht noch weniger erwünscht als für
eine andere Großmacht, da es sowohl finanziell als auch militärisch un¬
vorbereitet ist. Das letztere ergibt sich schon aus allen Begleitumständen
der Durchführung der Militärreform, deren Ergebnisse sich noch nicht
in die Tat haben umsetzen können, und auch aus der in allerletzter Zeit
aufgeworfenen Frage der Neubewaffnung der Artillerie. Zu alledem
kommt noch eine Erwägung rein psychologischer Natur hinzu: Sollte
wirklich die Initiative eines allgemein europäischen Krieges von einem
Monarchen ergriffen werden, dem es in seinem hohen Alter gelungen
ist, für sich und sein Land wenigstens einen Teil des Ansehens zurück¬
zugewinnen, welches die Monarchie im Anfang seiner Regierung besaß,
und dessen sie im Lauf vieler Jahre ständig verlustig ging? Eine große
*) Benckendorff. Bd. II. Nr. 666, S. 432 ff.
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