Volltext: Diplomatische Geheimakten aus russischen, montenegrinischen und sonstigen Archiven (Band II 1929)

Nr. 422. 
Der Gesandte in Belgrad Prinz von Ratibor 
an den Reichskanzler Fürsten von Bülow.1) 
Ausfertigung. 
Nr. 29. Belgrad, den 28. Februar 1908. 
In Bosnien beginnt sich1 eine Bewegung geltend zu machen, wie sie 
wohl ausnahmslos in einem durch eine europäische Macht okkupierten 
unkultivierten Lande in die Erscheinung tritt, sobald die zivilisatorische 
Arbeit des Eroberers ihre Wirkung in weiten Kreisen auszuüben be¬ 
ginnt. Mit der Kultur erwacht das Nationalbewußtsein und der Wunsch 
der einheimischen Bevölkerung nach Beteiligung an der Verwaltung 
und nach modernen Einrichtungen* 2). 
Herr von Burian3) scheint geneigt, dieser Bewegung einigermaßen 
Rechnung zu tragen, und wird dabei wohl von dem Gedanken geleitet, 
daß es besser sei, die nationalserbische Bewegung — denn um diese han¬ 
delt es sich in Bosnien — selbst zu leiten und der mehr und mehr sich 
entwickelnden Bevölkerung die Richtung zu geben, als sie unter den 
Händen der serbischen Agitatoren zu ergrimmten Gegnern Österreich- 
Ungarns mit großserbischen Gelüsten werden zu lassen. Daß diese 
Politik von dem katholischen Klerus und den Kroaten bekämpft wird, 
die miteinander katholische und, was in diesem Falle dasselbe ist, kroa¬ 
tische Propaganda treiben, liegt auf der Hand. Aber auch ein großer 
Teil der bosnischen Beamtenschaft scheint mit ihrem obersten Chef in 
Wien höchst unzufrieden zu sein, da dieselbe befürchtet, daß das System 
Burian eine ihnen gefährliche Konkurrenz für ihre Stellen schaffen 
werde. Auch mag ein guter Prozentsatz der Beamten prinzipiell mit 
der Auffassung des Herrn von Burian nicht einverstanden sein. 
Hier im Königreich Serbien, wo der großserbische Gedanke genährt 
wird, verfolgt man bekanntlich den Lauf der Dinge jenseits der Drina 
mit lebhafter Aufmerksamkeit und schürt nach Kräften. Die 
!) Die große Politik Bd. 26 (I. Hälfte) Nr. 8912 S. 3. 
2) Über die großserbische Bewegung ist eine ganze Literatur entstanden. Den öster¬ 
reichischen Standpunkt vertreten u. a. L. Mandl, Österreich-Ungarn und Serbien (1911), 
L. v. Südland (Pilar), Die südslawische Frage und der Weltkrieg (1918), H. Friedjung, 
Das Zeitalter des Imperialismus i884—1914, II, S. i63ff.; den antiösterreichischen 
T. G. Masaryk, Der Agramer Hochverratsprozeß und die Annexion von Bosnien und 
der Herzegowina (1909), im wesentlichen auch R. W. Seton-Watson, Die südslawische 
Frage im Habsburger Reiche. Bemerkenswert ist das Urteil des ehemaligen serbischen 
Geschäftsträgers in Berlin, M. Boghitschewitsch, der in seinem Buche „Kriegsursachen“ 
(S. 2 4) zugibt, daß die österreichischen Beschuldigungen gegen die großserbische Pro¬ 
paganda größtenteils auf Richtigkeit beruhten, wenn sie auch gerichtlich, wie der be¬ 
kannte Prozeß Fried jung zeigte, nicht zu erweisen waren. 
3) K. u. K. Reichsfinanzminister, als solcher mit der Zentralleitung Bosniens und der 
Herzegowina beauftragt. 
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