Es bleibt daher für die leitenden serbischen Staatsmänner Pflicht,
mit dieser Gefahr und dieser Möglichkeit ernstlich zu rechnen.
Namentlich ist es für Serbien von der größten Wichtigkeit, seinen
Platz an der Seite jener Gruppierung der europäischen Mächte zu
suchen, die eine solche Lösung des Balkan- und Orientproblems be¬
günstigt, mit der Serbien einverstanden sein kann, weil sie seine Existenz
und seine Zukunft nicht gefährdet.
Während seiner jüngsten Anwesenheit in verschiedenen europäischen
Hauptstädten, erklärte Herr Milowanowitsch weiter, habe er von leiten¬
den Staatsmännern mannigfache Versicherungen der Sympathien und
der Freundschaft für Serbien erhalten. Auch während seines Kurauf¬
enthaltes in Marienbad sei ihm das Glück zuteil geworden, aus dem
Munde des Königs von England sehr schmeichelhafte und ermutigende
Worte für die Zukunft Serbiens zu vernehmen1).
In seiner Unterredung mit dem Grafen Aehrenthal habe er ebenfalls
den Eindruck gewonnen, daß dieser sympathische und freundschaft¬
liche Gesinnungen für Serbien hege, und daß er nicht nur in bezug auf
den Handelsvertrag, sondern auch in allen anderen wirtschaftlichen und
finanziellen Fragen den serbischen Interessen in weitestem Umfange
entgegenzukommen bereit wäre — alles dies aber selbstverständlich nur
unter der stillschweigenden Voraussetzung, daß Serbien sich entschließen
könnte, den Platz zu akzeptieren, den ihm die Balkanpolitik des Wiener
Kabinetts zugedacht hat.
Denjenigen, in deren Händen das serbische Volk die Leitung seiner
Geschicke gelegt hat, bleibe es überlassen, darüber schlüssig zu werden,
ob Serbien sich mit der Rolle abfinden kann, die ihm im Rahmen der
österreichischen Balkanpolitik Vorbehalten ist, ohne seiner ererbten und
traditionellen nationalen Mission2) untreu zu werden, und ohne seine
ganze staatliche Zukunft sowie die Zukunft des gesamten serbischen
Volksstammes für immer zu komprimittieren.
Die Klugheit werde es vielleicht gebieten, zu diesen und ähnlichen
prinzipiellen Fragen nicht früher Stellung zu nehmen, als bis der
entscheidende Moment gekommen sei.
Auch die Frage, ob Serbien und die anderen Balkanvölker dazu be¬
rufen sind, entsprechend dem leitenden Gedanken der englischen Politik
an der Seite der Ententemächte Europa und den Weltverkehr vor dem
Egoismus Deutschlands zu schützen3), müsse gleichfalls als eine solche
angesehen werden, die noch zu keiner Entscheidung dränge und keines¬
wegs dazu nötige, vorzeitig die Karten aufzudecken4).
Wohl aber dürfe Serbien schon jetzt nicht müßig zusehen, wenn
Griechen und Bulgaren Vorteile zu erlangen suchen5), die den serbischen
Staat und das serbische Element in eine prekäre Lage zu bringen ge¬
eignet sind.
Der status quo am Balkan habe das natürliche Gleichgewicht zwischen
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