138
Betrachtungen
Wie meist, so war auch bei dem Unternehmen gegen Riga das Glück dem
Kühnen hold. Es war ein Glück, daß in dem Augenblick, in dem der
schwache deutsche linke Flügel zum Angriff ansetzte, die Russen sich ihrerseits
scharf nach links zusammengeschoben hatten, wo sie dank dem Widerstand
der Abteilungen Aorck und Brandts nichts auszurichten vermochten. So
wurde es möglich, daß die Angreifer nach Überwindung der vordersten
Widerstandslinie der Russen ohne weitere ernste Kämpfe bis zu ihrem Ziel
durchstoßen konnten und sich nicht mit einem langdauernden und bei den Ge¬
ländeverhältnissen besonders schwierigen Kampf in der Tiefenzone auf¬
halten mußten. Ob der Erfolg vielleicht noch größer geworden wäre, wenn
das Generalkommando an dem ursprünglich geplanten Übergang bei
Uexküll festgehalten hätte, kann dahingestellt bleiben. Wenn man die Ver¬
hältnisse beim Gegner so übersehen hätte wie nach dem Unternehmen, wäre
ein Vorstoß auf Uexküll allerdings auch nach dem Ausfall der 1. Garde-
Reserve-Division mit Hilfe der Eisernen Division denkbar gewesen. Aber
dazu fehlten die — rechtzeitig beantragten — Übersetzmittel, und die
Operation wäre zum Stillstand gekommen.
Die Frage schließlich, ob die Truppen des VI. Reservekorps ihren Erfolg
durch sofortigen Nachstoß weiter hätten ausbauen und damit der späteren,
damals noch nicht vorauszusehenden Entwicklung eine andere Wendung
hätten geben können, ist zu verneinen. Die ungenügende Ausstattung der
Baltikum-Truppen mit Bewegungsmitteln, die zu erwartenden Ver¬
sorgungsschwierigkeiten und vor allem die Unmöglichkeit der Sicherung
eines weit ausgedehnten Etappengebiets verboten uferlose Eroberungs- und
Verfolgungspläne, ganz abgesehen von der Einstellung der heimischen
Regierung und der vorgesetzten Dienststellen, die schon im Hinblick auf die
gespannte Lage gegenüber Polen und der Entente einen unbegrenzten Vor¬
stoß in bolschewistisches Gebiet kaum zugelassen haben würden.
Ebensowenig läßt sich nachträglich entscheiden, ob eine Beschränkung auf
den bei Riga errungenen Erfolg das Richtige gewesen wäre.
Es war zweifelhaft, ob man durch solche Zurückhaltung die Bolschewisten
zum Verbleiben in Livland oder zum Wiedervorgehen auf Riga hätte
veranlassen und damit die Besetzung Rigas auch der Entente und den
Esten gegenüber hätte begründen können. Fest stand in den schicksal¬
schweren Tagen nach der Einnahme Rigas nur der Wunsch der Balten und
der Regierung Needra, ihren Einfluß auch auf Südlivland auszudehnen.
Der Führer der Landeswehr und damit mittelbar auch das General¬
kommando hat ihm entsprochen und seine Truppen in der Folge doch über
den Bannkreis Rigas vorgehen lassen. Daß damit die Gefahr eines Zu-