Am elendesten steht es um den wichtigsten Ab¬
schnitt der Dolomitenfront, ja vielleicht der Tiroler Lan¬
desverteidigung überhaupt: Um das Sextental. Der
Kreuzbergpaß, über den man von Auronzo her glatt¬
weg ins Pustertal marschieren kann, ist unbesetzt. Sie¬
ben Kilometer dahinter hat man bei dem Dorfe Moos
eine Talsperre erbaut. Diese Talsperre zwischen den
geräumten Werken Haidegg und Mitterberg besteht, wie
übrigens die meisten Tiroler Befestigungen um diese
Zeit, aus „Stützpunkten“, deren Erbauer blutige Laien
und Anfänger waren: Aufgezogene Holzkasten mit säu¬
berlichen Schießscharten, darüber Schrapnellschirme, das
heißt Bretter, mit Erde bestreut. Jede Mulde, mit dem
Infanteriespaten ausgehoben, ist besser als diese Mäuse¬
fallen, denen der Luftdruck einer in der Nähe kre¬
pierenden Granate den Garaus macht.
So verbringen die Standschützen bange Tage an
dieser „Front“, die keine Front ist. Ihre Offiziere ha¬
ben genug Einsicht und blutererbtes Soldatentum in den
Adern, um die Gefährlichkeit dieser Lage voll und ganz
zu erkennen. Aber sie müssen schweigen. Ueberali
stoßen sie auf strenge Befehle, die von gebirgsuner-
fahrenen, nach Karten arbeitenden Kommanden ausge¬
geben werden. Die Standschützen fügen sich. Ihnen be¬
gegnet der grenzenlose Hochmut des „Fachmannes“, ent¬
mutigt ihre gesunde Meinung, häuft Fehler auf Fehler.
Und von Süden her schieben sich die Bataillone der
Armee Nava heran, dieser 4. italienischen Armee, deren
Ziel cs ist, Südtirol durch einen Vorstoß ins Pustertal
rasch und sicher abzuschnüren . . .
Es vergeht eine Woche, eine zweite, und trotzdem
geschieht nichts. Hin und wieder zeigen sich Italiener,
aber sie bleiben auf ihren Bergen, sie schanzen und
graben, als drohe ihnen der Angriff des Gegners.
Die ausgebauten Kanonen von Haidegg, die jetzt auf
dem Innergsell stehen, feuern mitunter auf den Col
Collesei, wo der Feind mit unverständlichem Eifer Stel¬
lungen errichtet und Drahtverhaue flicht. Der Baß der
alten braVen Bronzerohre klingt wie ein Festschießen.
Die Italiener antworten gelegentlich auf Fernziele, deren
Harmlosigkeit jedem Laien offenbar ist. Später sind
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