Volltext: Was wir vom Weltkrieg nicht wissen

August Gallinger 
Zwei Frauen sind auch noch hinzugekommen, die ein entsetzliches Schicksal bei Mülhausen 
ereilte. Sie sind ganz alte Mütterchen und ihre Männer waren ganz gebrechliche Greise. Den 
einen erschlugen die französischen Soldaten, weil er, an einen Pferdeschweif gebunden, nicht 
schnell genug laufen konnte,- den andern erschoß man, weil er zu klagen wagte über die Mi߬ 
handlung seiner greisen Gattin. Beides ist in ausführlichem Protokoll in Singen niedergelegt 
und kann von vielen Zeugen bestätigt werden. Sie sind ganz stumpfsinnig über all dem Ent¬ 
setzlichen geworden, von demselben Gesindel, das später die Kriegsgefangenen so tierisch 
roh behandelt hat, werden auch diese Zivilgefangenen mit Johlen, Zischen, Pfeifen, Hohn¬ 
gelächter, Beschimpfungen überhäuft. — Eine Wöchnerin liegt im Spital nach einer schweren 
Geburt, die eine Operation benötigte. Gerade sieben Tage vorher. Um 7 Uhr trat der Arzt 
an ihr Lager. Er schneidet ihr die Fäden der Wunde ab, impft sie und das Rind, und zeigt 
auf die Straße, »helfen Sie mir wenigstens das Uleine einwickeln und das Nötigste zusammen- 
raffer/, bat sie den Wärter, der verweigerte es, bis er sieht, daß sie sich in der Verzweiflung 
mit dem Rind zum Fenster hinausstürzen will... Zn einer alten Ruine wird haltgemacht. 
700 Menschen drängen sich im Hof zusammen. Soldaten mit aufgepflanztem Bajonett bilden 
einen engen Ureis um die Unglücklichen. Dann tönt scharf die Stimme des Offiziers: ,Und 
vor allem kein Mitleid. Bei der ersten Bewegung macht ihr sie alle nieder/ Zn der Nacht 
holen sich die Soldaten mit Gewalt junge Mädchen aus den Schafställen..." 
.. wir haben viele Uranke, ja Schwerkranke, ver Doktor erkundigt sich, wer Geld 
hat, aber auch dem schreibt er nur hastig ein Rezept. Die anderen können »verrecken' (crever), 
das ist sein Lieblingswort. Eine hochschwangere Frau windet sich in der Nacht in Urämpfen. 
Ein Deutscher zahlt das Honorar und läßt den Arzt holen. »Einmal und nicht wieder*, 
sagt der, »man kann ohne mich sterben'... wir sind reißende Eiere geworden, die man mit¬ 
leidslos behandeln muß. Das Gitter öffnet sich von Zelt zu Zeit und läßt Offiziersdamen 
durch, die hoch die seidenen Röcke heben, um durch unsere von Schmutz starrende Uantine zu 
wandern. Sie treten in unser Zimmer, ohne zu klopfen, ohne die Greisinnen zu grüßen, von 
denen die eine gestern ihr 84. Geburtsjahr feierte, hochmütig streifen ihre Blicke unsere zer¬ 
lumpten Lager und dann bemerken sie fast vorwurfsvoll zu Fumet: »Aber die haben es doch 
sehr gut,- da kann man ein Zahr hier aushalten!' — Ein Frauenkarzer ist auch eingerichtet 
worden, denn: 4 Tage, wer die schmutzige Wassersuppe nicht hinunterwürgt, 14 Tage, wer 
eine Zeitung liest, 8 Tage, wer warmes Wasser verlangt usw-— wir Frauen und Rinder 
sollten abreisen und wurden photographiert. Ein feiner Regen fiel, vier Stunden war man 
schon auf den Füßen, konnte nicht mehr stehen vor Müdigkeit und die Rinderchen fingen zu 
weinen an. »Ob man Bänke holen dürfe, zum Niedersehen?' — »Das fehlte noch, verrecken 
Sie doch' (crevez-donc), hieß es .. 
Ein 72jähriger Elsässer erzählt: 
„Ich war vor dem Rriege, wie viele meiner Landsleute, Gutspächter in der Nähe von 
Luneville. Schon am 2. August 1914 wurden wir alle verhaftet und gefesselt in Automobilen 
in Luneville herumgeführt. An den Straßenkreuzungen und an allen Plätzen wurde halt¬ 
gemacht, und ein Soldat verkündete: »Seht, das sind die deutschen Spione, sie werden morgen 
erschossen*. Am Abend wurden wir in der Rirche von Ain eingesperrt. Dort wurden je 
zwei Mann einander gegenübergestellt und mußten die Daumen aufeinander¬ 
legen, die durch Daumenschrauben aneinander gefesselt wurden... Am 
21. August 1914 wurden sämtliche Beamtenfrauen von Saales, darunter auch ich, als Geiseln 
verschleppt, im Gemeindegewahrsam in Saales wurden wir auf niederträchtige Art von Sol¬ 
daten verhöhnt, kamen zuerst nach St. Die, wo wir mit noch anderen verschleppten aus 
Markirch, 68 an der Zahl, beiderlei Geschlechts in einem Fabrikraum untergebracht wurden..." 
Es ist immer und überall dasselbe, ob es sich um in Frankreich aufgegriffene 
harmlose Frauen und Rinder handelt, oder um verschleppte Elsaß-Lothringer. Eine 
unsäglich verrohte Presse reizt mit Lügen und Verleumdungen die Bevölkerung 
auf und bekennt sich sogar ausdrücklich zu dieser Methode. Die Folge ist, daß Männer, 
Frauen und Rinder beschimpft, bespuckt und ohne jeden Grund mißhandelt werden. 
Zm Bericht eines 60jährigen Mannes lese ich: 
„... Am 2. August 1914 im Stationsgebäude schrie mich der Polizeisergeant, der meine 
Legitimation las, an: »Nix daitsch, Daitsch Hierbleiben!* Zur Bekräftigung dieser Ansicht oder 
gouvernementalen Bestimmung bekam ich einen Faustschlag vor die Brust, der mich rücklings 
zu Boden warf, andern erging es ähnlich ..."
	        
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