Volltext: Was wir vom Weltkrieg nicht wissen

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Walther Mederrheim 
unnötig. Oie Angst steigert sich ferner mit der — falschen oder richtigen — Annahme, 
daß ein lebenswichtiges Grgan getroffen sei. Noch Stunden später sieht man bleiche 
Gesichter nach harmlosen Prellschüssen in der Bauch- oder Herzgegend, vor Bauch¬ 
schüssen herrscht wohl die meiste Furcht und nicht mit Unrecht, denn bei durchtrenntem 
Darm kommt Hilfe fast immer zu spät. Auch pflegt der Tod sehr schmerzhaft zu sein. 
Sind die Gedanken während des Gefechts lebhaft in Anspruch genommen (so beim 
Sturm), dann reagieren manche Getroffene auf die Verwundung zuerst mit dem 
Gefühl der Überraschung. Obgleich mitten in Gefahren steckend, haben sie in dem 
Augenblick doch nicht an die Möglichkeit gedacht, daß auch sie dem Krieg ihren Tribut 
zahlen könnten. Ich kann hier von mir selber sprechen, da ich einmal in ähnlicher 
Lage eine leichte Verletzung durch Schrapnellschutz davongetragen habe. Ich rannte 
bei starkem Artilleriefeuer die vorfstraße entlang, plötzlich spürte ich einen nicht 
sonderlich schmerzhaften Schlag wie mit einem Kolben auf dem vorderen Rand des 
einen Stiefels, ahnte aber die Ursache noch nicht. Ein Blick belehrte mich, daß die 
Ledersohle vom Gberschuh fast völlig abgesprengt war. Oie Zehen taten etwas weh. 
Also verwundet, — und ich war sehr überrascht! Zugleich meldete sich ein wenig die 
Angst, diese aber besiegt durch den sich unmittelbar anschließenden Gedanken: 
schlimm kann es nicht sein, höchstens ein paar Zehen entzwei! Neue Verwunderung 
im gleichen Augenblick: ich höre ein patschen und Klirren um mich, — die noch herab¬ 
sausenden Kugeln sind es, bleibe also noch eine Sekunde stehn, jetzt schon besorgter, — 
nein, es läuft gut ab! Dann humple ich weiter ins nächste Haus, werde gefragt, was 
ich abgekriegt, und komme mir großartig vor, — es war doch ein Ereignis!" 
Ganz ähnlich, ja fast gleich waren meine eigenen psychischen Reaktionen am 
Abend des 30. August 1914 in einem Hohlweg oberhalb des Dörfchens Mont nach 
dem Maasübergang zwischen Oun und Sasseg, als ein Granatsplitter mir die linke 
Ledergamasche aufgerissen hatte. 
Als aber der Krieg länger dauerte, im Ivesten zum Stellungs- und Grabenkrieg 
erstarrt war, als die Materialschlacht mit ihrem überwältigenden Trommelfeuer die 
Truppe in ihren oft fast schutzlosen Unterständen und Granattrichtern eindeckte, da 
herrschte bei mir und bei meiner Umgebung ein anderer Seelenzustand vor. hierüber 
soll an anderer Stelle berichtet werden. 
Stilles Heldentum 
Es war der 10. September 1914. Regenschauer, von kaltem herbststurm gepeitscht, 
ergossen sich über die von Truppen erfüllte Oorfstraße von Sommaisne. „Oer Nacht¬ 
angriff" hatte das XIII. Armeekorps schwere Verluste gekostet, wir Truppenärzte 
hatten alle Hände voll zu tun, und das Gefühl menschlicher Unzulänglichkeit war 
noch nie so stark in Erscheinung getreten. Oie Tragik des Feldarztes ist das Mi߬ 
verhältnis der Zahlen: Hunderte und aber Hunderte von verwundeten Kameraden 
kommen in nicht endenwollenden Ketten, in wagen und auf Tragen, gestützt oft auf 
gleichfalls verwundete, zum Verbandplatz. Oie Wiesenraine, Gräben nehmen auf, 
was geht; in halb zerschossenen oder noch rauchenden Trümmerstätten einstiger 
Häuser werden die Armen niedergelegt, — und um all diese hilflosen sind nur wir 
wenigen Arzte und das niemals ausreichende Sanitätspersonal besorgt. 
welche tragischen Stunden! Und doch wie beglückend, manch liebem Kameraden
	        
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