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Heinrich hunke
Harmonie aller Interessen hervorbringe, und Rarl Marx war der Ansicht, daß eines
Tages durch einen einzigen politischen Akt der ewige Frieden hereinbräche.
In dieser Zeit der Verabsolutierung der Wirtschaft mußte Friedenswirtschaft als
Regel angesehen werden. Solange konnte aber die Wirtschaft in Theorie und Praxis
keine Veranlassung haben, sich mit kriegerischen Problemen zu befassen. Solange
mußte der Volkswirtschaftslehre der Sinn für die Realität der Volkswirtschaft ab¬
gehen,' und solange schließlich mußte es ihr unmöglich bleiben, in der Volkswirtschaft
den Inbegriff der Produktivkräfte eines Volkes als den wahren Träger der Wirt¬
schaft zu erkennen und zu begreifen, daß Volk und Raum das wesentliche sind, was
einem Staat im Kriegsfalle zur Verfügung steht. Politiker und Soldaten aber mutzten
für ihre Praxis, wie Schliessen in seiner Eannä-Gperation gegen Frankreich, daraus
den Schluß ziehen, daß die Friedenswirtschaft im Kriegsfälle schnell wieder in Gang
gebracht werden müsse, „um die Existenz der Nation nicht aufs Spiel zu setzen".
Damit war die denkbar vollkommenste Einheit des operativen, politischen und wirt¬
schaftlichen Denkens erreicht, und die Wirtschaft selbst war das Schicksal geworden.
Die Friedensschlagworte werden wertlos
Der große Krieg hat mit rauher Hand dieses Theoriengewebe zerstört. Als noch
die Wirtschaft glaubte, daß sie große Pause habe, daß man „die Lude schließen und
auf Frieden warten könne, der ja bald wiederkehren und alle Lust an Handel und
Wandel wiederbringen würde", gebar die Not der Zeit: die Kriegswirtschaft. Oie
Wirtschaft wurde eine und zwar eine mitentscheidende Waffe im Ringen der Völker.
Die Weltwirtschaft, die als die höchste Entwicklungsstufe über die
Volkswirtschaft gestellt wurde, erwies sich als einphantom. Man hatte ver¬
gessen, daß letzten Endes wirtschaftsfragen auch Machtfragen sind, und daß in diesem
Sinne die Volkswirtschaft die höchste Realität darstellt, weil hinter ihr die Macht eines
Volkes steht, während Weltwirtschaft immer die Summe der Unzulänglichkeiten aller
wirtschaftender einzelnen Völker bleiben wird, solange nicht eine politische Gewalt in der
Lage ist, wirtschaftspolitische Notwendigkeiten auch in der Weltwirtschaft durchzusetzen.
Die Hungerblockade Englands schloß Deutschland fast von der ganzen
übrigen Welt ab. hatte Deutschland zur Deckung des Bedarfs an Brotgetreide in
den letzten Friedensjahren dauernd eine zusätzliche Einfuhr von 1,5—2 Millionen
Tonnen Weizen benötigt, so konnten diese zwar im Kriege ohne Schwierigkeiten
durch Roggen ersetzt werden, der bisher verfüttert worden war, aber dann blieb
doch entscheidend der Futtermittelmangel. 1913 waren 8 Millionen Tonnen Futter¬
mittel in das Reichsgebiet eingeführt worden, so daß jetzt mindestens ein Drittel der
bis dahin verbrauchten Futtermittel ausfiel. In einer richtigen Vorahnung der kom¬
menden Dinge überreichte der Staatssekretär Delbrück am 10. Mär; 1913 dem Reichs¬
kanzler einen Vorschlag, der sich mit der Sicherung der Versorgung mit Brotgetreide
befaßte. Er wollte eine gewisse — wenn auch unzureichende — Menge Getreides
aufkaufen und einlagern lassen, darüber hinaus aber auch durch die Preissteigerung
verhindern, daß das deutsche Getreide in das Ausland abwanderte. Oer Reichs¬
kanzler traf jedoch aus außenpolitischen Besorgnissen keine Entscheidung, und die
Verhandlungen liefen ziellos weiter. Oie einzige positive Maßnahme war schließlich
das Gesetz vom 20. Mai 1914, das eine Bestandaufnahme im Brotgetreide anordnete.
Noch am 25. Juli 1914 wurden 5 Millionen Mark für den Raus der in Rotterdam