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Hermann ©eyei
ihrer physiologischen Einwirkung auf den lebenden menschlichen Rörper genau in die
gleiche Klaffe von Substanzen zählten, zu der die französischen Füllstoffe gehörten"*).
Waren die deutschen Gasstoffe völkerrechtswidrig, so waren es die vorher einge¬
führten französischen auch. Oie Deutschen waren dann zweifellos berechtigt, Gleiches
mit Gleichem zu vergelten.
Diese deutschen Granaten, die T= und K-Geschosse, die übrigens dem Völkerrecht
auch insofern entsprachen, als sie nicht reine Gasgeschosse waren, sondern daneben
noch Brisanzwirkung hatten, fanden zum erstenmal am ZI. Januar 1915 an der Ost¬
front, im Mär; 1915 an der Westfront Verwendung.
Der Erfolg war wieder nicht ausreichend. Die Verwendung der neuen Geschosse
legte aber doch den Grund zu der neuen artilleristischen Taktik des Gasschießens, von
der später die Rede sein wird.
Die Franzosen haben somit zweifellos mit dem Gaskrieg be¬
gonnen. Sie haben den Stein ins Rollen gebracht. Er war nicht aufzuhalten. Die
technische Möglichkeit, die aus dem hohen Stand der chemischen Wissenschaft und Indu¬
strie beruhte, drängte, nachdem sie einmal erkannt war, nach Entfaltung. Wie sie
schließlich alle Schranken formaler, übrigens keineswegs eindeutiger Verbote über
den Haufen warf, wird die weitere Darstellung zeigen.
Das Völkerrecht erlaubt, gegenüber dem Rechtsbrecher die gleichen Mittel als
Vergeltung anzuwenden. Nichts mehr und nichts weniger haben wir getan, aller¬
dings rasch mit größerem und weithin sichtbarem Erfolg.
Das militärische Bedürfnis nach dem neuen Kampfmittel
Die Entwicklung des Gaskrieges war unvermeidlich
Der Feindbund war uns aus mancherlei Gründen in der Propaganda bekanntlich
über. Es gab und gibt Leute, die aus diesem Grunde die Ansicht vertreten, wir hätten
besser getan, den Gaskrieg nicht zu entwickeln. Die andern hätten dies dann auch nicht
getan. Ein recht häßlicher Greuelgrund wäre dann entfallen.
Nichts ist unwahrscheinlicher, als daß es keinen Gaskrieg gegeben hätte, wenn wir
uns zurückgehalten hätten. Venn nicht nur die technische Möglichkeit war vorhanden,
sondern je länger je deutlicher meldete sich das militärische Bedürfnis.
Es wäre vogelstraußpolitik gewesen, sich ein Mittel zu versagen, in dem wir
dank unsrer überlegenen chemischen Wissenschaft und Industrie vielleicht die Vorhand
gewinnen konnten, das sich aber katastrophal zu unsern Ungunsten entwickeln konnte,
wenn wir nichts taten, während die andern neue Wege suchten und vielleicht auch
fanden. Bei der engen Wechselwirkung, die zwischen aktiver Anwendung und passivem
Schutz besteht, wären wir sicher auch im Schutz bald stark zurückgeblieben. Was hätte
man dann über militärische Engstirnigkeit geschimpft! Und mit Recht!
Der Stellungskrieg begünstigte die Entwicklung
Vas militärische Bedürfnis nach dem neuen Rampsmittel erwuchs aus dem
Stellungskrieg.
Vas vernichtende Schnellfeuer der neuzeitlichen Maschinenwaffen zwang die
Kämpfer immer mehr in den Boden und hinter Deckungen. In kleinen Gruppen, die
*) Dr. hanslian, Der chemische Krieg, 1927.