Einblicke in den Nachrichtendienst
während des Weltkrieges
Von Oberst a. D. Walter Nicolai
im Weltkrieg Chef deS Nachrichtendienstes der Obersten Heeresleitung
Ä^ie jede Schlacht wird auch der Krieg durch einen sich steigernden Nachrichten¬
dienst vorbereitet und eingeleitet. So kündigte sich der Weltkrieg seit dem Beginn des
20. Jahrhunderts, seit der Entfaltung der deutschen Wirtschaft sowie der deutschen
Seemacht und seit der Thronbesteigung Eduards VII. von England mit einer offen¬
sichtlich verstärkten Tätigkeit des englischen und französischen Nachrichtendienstes an.
Der Ring der „Entente cordiale" schloß sich im Nachrichtendienst um Deutschland, als
Rußland den Rrieg gegen Japan verloren hatte und 1906 seine Gffensiv-Front unter
französischem Einfluß von dem ihm versperrten fernen Osten nach Westen gegen
Deutschland und Österreich-Ungarn herumwarf, um auf dem Weg durch das Branden¬
burger Tor und über Wien seine Ziele auf dem Balkan und gegen die Dardanellen von
neuem aufzunehmen.
Verkümmerung des deutschen Nachrichtendienstes vor dem Krieg
In Deutschland ruhte man seit Bismarcks Abgang auf seinen Lorbeeren. NIan
glaubte, sein Werk erhalten zu können, wenn man den Frieden wollte. Man unter¬
schätzte die Gefahren des französischen Keoanchegedankens und den Willen Gro߬
britanniens, keinen Nebenbuhler in seinem Weltreich aufkommen zu lassen. In
diesem Friedenswillen verkümmerte in Deutschland der Nachrichtendienst. Nur der
Generalstab fühlte die Pflicht, sich für den Krieg vorzubereiten. Fern jeder aktiven
Teilnahme an der Politik schuf er in stiller geistiger Arbeit alljährlich je nach der außen¬
politischen Lage des Vaterlandes die Vorarbeiten für Mobilmachung, Aufmarsch und
erste Operationen für den Fall eines Krieges, bildete sich selbst mit den Fortschritten
der Technik in Taktik und Strategie weiter und beeinflußte führend die taktische Aus¬
bildung des Gffizierkorps und der Truppen. Die Grundlagen hierfür bildeten die
Stärke, die Dislozierung, Bewaffnung und Ausrüstung sowie die Ausbildung der
voraussichtlich dereinst feindlichen Heere, das Straßen- und Eisenbahnnetz ihrer
Länder und die natürliche Beschaffenheit sowie die Festungssgsteme des oder der
voraussichtlichen Kriegsschauplätze. So arbeitete nicht nur der deutsche, sondern auch
der Generalstab jeder anderen Großmacht Europas.
Die Unterlagen für diese Arbeit lieferte ihnen ihr Nachrichtendienst. Er schöpfte
aus den verschiedensten Ouellen. Eine große Anzahl der notwendigen Angaben
lieferte die Tagespresse und die Fachliteratur, vieles beruhte auch auf gemeinsamen