Volltext: Was wir vom Weltkrieg nicht wissen

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Hans ©aide 
Ende November 1911 legte der Chef des Generalstabes der Armee dem Reichs¬ 
kanzler eine Denkschrift über seine Auffassung von der militärpolitischen Lage Deutsch¬ 
lands vor, in der u. a. folgendes ausgeführt war: In einem deutsch-französischen 
Kriege werde man England und Rußland an der Leite Frankreichs finden, während 
die Haltung Italiens sehr zweifelhaft sei. Schwenke es zur Entente ab, so werde die 
Stoßkraft Österreichs gegen Rußland stark beeinträchtigt. Großer wert sei für uns 
auf die Mitwirkung der Türkei sowohl England wie Rußland gegenüber zu legen.. 
Mit Sicherheit könne man aber gegenüber der Koalition Frankreichs, Rußlands und 
Englands nur auf die vereinigten Streitkräfte Deutschlands und der Donaumonarchie 
rechnen. Ls wurde nachgewiesen, wie sehr sich die militärischen Kräfteverhältnisse 
in den letzten Jahren zu unsern Ungunsten verschoben hätten, und darauf hin¬ 
gewiesen, daß in fast allen europäischen Staaten eine erhöhte militärische Tätigkeit 
herrschte. „Alle bereiten sich auf den großen Krieg vor, den alle über kurz oder lang 
erwarten. Nur Deutschland und das ihm verbündete Österreich nehmen an diesen 
Vorbereitungen nicht teil, während in Österreich die Regierung schon seit Jahren 
vergebens um eine unwesentliche Erhöhung des Friedenspräsenzstandes kämpfte, 
hat sich Deutschland aus finanziellen Gründen im laufenden Jahre mit den Forde¬ 
rungen des neuen chuinquennates in den bescheidensten Grenzen gehalten. Eine 
wirkliche, wenn auch unbedeutende Verstärkung der Wehrkraft wird auch dieses erst 
im Jahre 1914 bringen, von Feinden rings umgeben, läßt Deutschland 
jährlich Tausende seiner waffenfähigen Männer unausgebildet und 
daher nutzlos für die Landesverteidigung." 
Auch der Kriegsminister erklärte dem Reichskanzler unter Hinweis auf die un¬ 
zulänglichen Friedenspräsenzgesetze von 1905 und 1911, daß die Entwicklung der 
politischen Lage eine Verstärkung der Armee jetzt unbedingt notwendig mache. Seine 
Forderungen wurden aber auch jetzt wieder infolge der Einwirkung des Reichs¬ 
schatzsekretärs erheblich eingeschränkt. Oie Gesetze vom Juni 1912 brachten die Er¬ 
richtung von zwei neuen Armeekorps (XX. und XXI.) und eine Verstärkung des 
Heeres von im ganzen rund 29000 Mann. von der tatsächlichen Durchführung der 
allgemeinen Wehrpflicht, wie in Frankreich, blieben wir indessen immer noch weit 
entfernt. 
In der zweiten Hälfte des Jahres 1912 und Anfang 1913 wurde die Kriegsgefahr 
immer drohender. Der Balkankrieg hatte gefährliche Reibungen Österreich-Ungarns 
mit Serbien und Rußland zur Folge. Frankreich und Rußland verstärkten ihre Wehr¬ 
macht weiterhin gewaltig unter gegenseitigem Druck. England verhandelte mit Frank¬ 
reich über den Abschluß einer Militärkonvention. In Frankreich gewann der Ehau- 
vinismus immer mehr an Loden. Dort wie auch in England war bereits die Ansicht 
verbreitet, daß das deutsche Heer dem französischen unterlegen wäre — eine offen¬ 
bare Folge davon, daß im letzten Jahrzehnt für den Ausbau unserer Wehrmacht zu 
wenig geschehen war. 
Wie unser Generalstab für den Fall eines Krieges Ende 1912 die Kräfte der 
voraussichtlichen Gegner beurteilte, ergibt sich aus nachfolgender Übersicht*), die er 
dem Reichskanzler vorlegte: 
0 Rüdt o. Callenberg, Die deutsche Armee, S. 100.
	        
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