Volltext: Was wir vom Weltkrieg nicht wissen

Unterlassungssünden in der Rüstung 
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Verschiedenheiten dem einen großen Gedanken unterordneten, daß das gemeinsame 
Vaterland über alles geht und daß für seine Sicherheit selbstverständlich jedes Opfer 
gebracht werden muß. Oer Oeutsche Reichstag hat vielfach allzusehr die Interessen 
des Steuerzahlers vertreten und auf die von der Regierung eingebrachten Heeres¬ 
vorlagen immer wieder abschwächend eingewirkt. Eine Forderung zur Erhöhung 
unserer Wehrkraft ist von ihm niemals ausgegangen. 
Im Jahre 1893 hatte sich die Regierung zum ersten Male erhebliche Abstriche 
durch den Reichstag gefallen lassen. Trotzdem war aber die damalige Heeresverstär¬ 
kung, die fast 60000 Mann betrug, noch als großer Erfolg anzusehen. Graf Münster, 
unser Botschafter in Paris, sagte damals, daß sie Deutschland auf 20 Jahre hinaus 
den Frieden sicherte. 
Um die Jahrhundertwende begann sich nun aber die politische Weltlage in ge¬ 
fährlicher Weise zuungunsten Deutschlands zu verschieben. Italien zeigte eine un¬ 
freundliche Haltung gegen Gsterreich-Ungarn und näherte sich Frankreich. Seine 
Bündnistreue wurde zweifelhaft, obwohl der Dreibund im Jahre 1902 erneuert 
wurde. Oer Gegensatz Englands zum Deutschen Reich wurde fühlbar und verschärfte 
sich immer mehr. Im Osten lagen die Verhältnisse zeitweise günstiger, da Rußland 
durch den Krieg mit Japan gebunden war. Uber im April 1904 kam die englisch-fran¬ 
zösische entente cvräiale zustande, der das Zarenreich 1908 beitrat. Die Einkreisung 
Deutschlands war im Gange! — Ist die drohende Gefahr rechtzeitig erkannt worden, 
und ist alles geschehen, was für die Sicherheit unseres Vaterlandes notwendig war? 
Trotz der starken Rüstungen unserer Nachbarn erfolgte die erste Heeresverstärkung 
seit 1899 erst im Jahre 1905. Sie betrug nur 10000 Mann und war die geringste 
von allen, die bisher erfolgt waren. Der Gedanke, grundsätzlich alle Tauglichen zur 
Ausbildung in das Heer einzustellen, kam nicht zur Geltung. 
Graf Schliessen hinterließ bei seinem Scheiden von der Stelle des Ehefs des 
Generalstabes der Armee, Ende 1905, seinem Nachfolger eine Denkschrift, in der er 
ausführte: „Wir haben die allgemeine Wehrpflicht und das Volk in Waffen er¬ 
funden und den anderen Nationen die Notwendigkeit, diese Institution einzuführen, 
bewiesen. Nachdem wir aber unsere geschworenen Feinde dahin gebracht haben, ihr 
Heer ins Ungemessene zu vermehren, haben wir in unseren Anstrengungen nach¬ 
gelassen. wir pochen noch immer auf unsere hohe Einwohnerzahl, aus die Volks¬ 
massen, die uns zu Gebote stehen,- aber die Massen sind nicht in voller Zahl der 
Brauchbaren ausgebildet und bewaffnet. Die Tatsache, daß Frankreich mit 
39 Millionen Einwohnern 959 Bataillone zum Feldheer stellt, Deutsch¬ 
land mit 66 Millionen nur 971, spricht eine vernehmliche Sprache." 
In den nächsten 6 Jahren aber bestand bei unserer Regierung noch immer keine 
Neigung, vom Reichstag die Mittel zu einer großzügigen Heeresverstärkung zu 
fordern. Auch die Bosnische Krise wurde nicht die Veranlassung dazu. 
Frankreich dagegen machte in jener Zeit ungeheuere Anstrengungen. Es führte 
den Grundsatz der allgemeinen Wehrpflicht bis auf das äußerste folgerichtig durch 
und stellte jeden kriegsbrauchbaren Mann ein. Die Ansprüche an die körperliche 
Leistungsfähigkeit wurden dabei derartig herabgesetzt, daß zum aktiven Dienst 
(einschl. Dienst ohne Waffe) im Jahre 1908 nicht weniger als 83,37 % aller Wehr¬ 
pflichtigen herangezogen wurden. Deutschland stellte im gleichen Jahre nur 53,7 % 
aller Gemusterten ein.
	        
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