Volltext: Unteilbar und untrennbar (1,1919)

720 Wien in 
nicht salutieren und schon gar nicht marschieren kann. Wer 
das nicht einsehen will, hat keine guten Zeiten beim Kader. 
... Es ist ein großes Haus, das man irgend für den neuen 
Zweck verwenden konnte. Denn die Kasernen reichen natürlich 
nicht. In Wien ist es beispielsweise auch das todgeweihte, 
schon vor dem Kriege von den Parteien geräumte Freihaus, 
das nun noch einmal zu Ehren kommt, sind es sogar die 
Buden im Kaisergarten, wo noch vor ein paar Jahren echte 
italienische Sänger auf wirklichen Gondeln durch ein hölzernes 
Venedig fuhren und „Santa Lucia" priesen. Meistens aber 
gibt wieder eine Schule den Platz her. An dem Eingangstor 
ist das Wort „Ersatzbataillon" angeschrieben und die Nummer 
irgend eines Regiments, ein Posten steht da und läßt nur 
den durch, der ein gewichtiges Recht dazu nachweist. Innen, 
an den Türen der Klassenzimmer hängen nun Tafeln, darauf 
kann man lesen: l. Kompagnie i. Zug, 2. Zug und so weiter. 
Die Schulbänke sind fortgeschafft, längs der Wände reihen 
sich Strohsäcke aneinander, Koffer stehen an ihrem Fußende, 
an ein paar Kleiderrechen hängen Uniformstücke, zwei oder 
drei Gewehre, Überschwünge, Patrontaschen, Bajonette. 
Auf der Schultafel ist der Querschnitt eines Gewehrs schemati- 
siert. Daneben prangt die Zimmerliste in Rond. (Es ist 
wahrscheinlich ein Kalligraph in der Kompagnie!) Durch das 
hohe Fenster bricht breite Sonne ein und wirft blonde Streifen 
über das Grau, Blau, Braun, das in dem Zimmer herrscht, 
spielt kringelnd mit allem, was aus hellem Metall ist und 
gerne spiegelt. Es ist Vormittag, die Mannschaft irgendwo 
draußen, ausgerückt. Ein Soldat, der zu leichtem Dienst 
kommandiert ist, schickt sich an, das Zimmer in blanke Ord- 
nung zu bringen, pfeifend, mit aufgestreckten Hemdärmeln. 
Draußen, auf dem Gang, sitzt der Korporal vom Tag, gähnt 
nach seiner zur Hälfte durchfröstelten Nacht mit ihrem stunden- 
langen Auf und Ab, liest in einem schmutziggegriffenen 
Krakauerkalender: Schauergeschichten von 1910... 
Alles wie im Frieden! Sogar die Decken auf den Schlaft 
stätten sind genau so vorschriftsmäßig zusammengelegt und 
das Brot liegt darauf neben der Eßschale, wie wenn es gar 
nicht anders möglich wäre, als eben gerade so. Daß statt der 
Betten Strohsäcke da sind, daß man hin und wieder, wenn 
es gar nicht anders geht, zu dritt mit zweien vorlieb nehmen 
muß, was verschlägt's? Es ist immer ein Spaßvogel da, der 
mit einem schlechten Witz über solch augenblickliche Unan- 
nehmlichkeiten weghilft. Und was sollen erst die im Feld 
draußen sagen? Außerdem, wenn man ehrlich ist: Es schläft 
sich, nach den ersten Nächten, auch auf diesen zwei Strohe 
sacken zu dritt ganz unglaublich gut. Denn alle, die da mit 
einem Male aus ihrem ungesunden Großstädterleben auft 
gerüttelt wurden, sind nun nicht nur der Unannehmlichkeiten 
des Soldatenstandes teilhaftig, sondern auch seiner Gnaden. 
Der gar nicht übernatürlichen! Das ist der Soldatenschlaf, 
der nicht nach dem „Wo", der Soldatenhunger, der nicht nach 
dem „Was" und dem „Wie" frägt. 
Ja, gleich nach den oft tragikomischen Einkleiduugszere- 
monien fängt die Arbeit an. Und weil das Ärar alles so vor- 
sorglich bereit gehalten hat, daß die Rekruten an einem Vor-- 
mittag ihre ganze Ausrüstung „ausfassen" können, vom Ge- 
wehr bis zur Kleiderbürste und Knopfgabel, ist die Metamor- 
phose bald geschehen. Es ist ja auch keine Zeit zu verlieren! 
Schon um sechs, wenn die Nächte kürzer werden, gar um 
fünf, weckt die kräftige Stimme der „Tagcharge" aus dem 
besten Morgenschlummer. Und gleich nach dem schwarzen 
Kaffee und dem Kommißbrot, um das das zivilistische Wien 
alle Feldgrauen zur Zeit der Brotkarte heftig beneidet, geht's 
Kriege. 
hinaus, auf die Praterwiesen, nach Simmering oder sonst 
wohin ins Freie: Gelenksübungen, Abteilig—Marschieren, 
Schwarmlinien, Gewehrgriffe! Wenn man dann zu Mittag 
nach Hause kommt, von der Sonne braun gebrannt und vom 
Wind rot geküßt, schmeckt die dampfende Menage auch aus 
den blanken Eßschalen. Und nach einer Rast von ein, zwei 
ober drei Stunden geht dasselbe Spiel von neuem an, bis 
zum Befehl um fünf oder um sechs. Das ist nun das neue 
Leben tagaus, tagein. Bei besonders schlechtem Wetter halten 
die Offiziere oder der Feldwebel „Schule" ab. Dann aber, 
wenn die Neulinge schon ein wenig Soldaten geworden 
sind, kommen Übungsmärsche, das Scharfschießen in Kagran, 
Nachtübungen, größere kombinierte Unternehmungen an 
die Reihe. Unmerklich wächst so der Zivilist von gestern zum 
Feldsoldaten auf, der er morgen sein soll. In den freien 
Stunden (nach dem Befehl bis zur Nachtwache oder Sonntags 
von zwölf oder ein Uhr ab) strömen sie alle in die Stadt 
hinaus, riechen ein bißchen in ihr früheres Leben hinein und 
denken wohl dabei: „Wie weit zurück liegt das eigentlich alles 
Nur wenn man näher zusieht, ist es anders wie im 
Frieden: Alles kondensierter und komprimierter. Das 
schulmeisterliche Heute mehr dem großen Morgen angepaßt, 
das schon vor der Tür steht. Die unvermeidlichen Kleinig- 
keiten, ja Kleinlichkeiten, die die Kaserne mit sich bringt, 
geadelt durch die Ahnung des kommenden Großen, Unbe- 
stimmbaren, Alltags-Entbundenen. Eine wunderbar frische 
Luft weht, reißt die Herzen auf, wo immer es einmal not tun 
sollte, bläst innerlich oder äußerlich Älteren die Verschlafen- 
heit aus den Augen. Nur die eine Sache gilt! Die Lehrer 
bringen ihre besten Erfahrungen von den Stürmen draußen 
mit, nützen, was sie im Schützengraben, auf Patrouillen-- 
gängen, im Kampfe Mann an Mann gelernt haben, für ihre 
Unterweisungen aus. Einige Punkte des Reglements haben 
gründlich ausgespielt. Die läßt man selbstverständlich fort. 
Anderes, das erst draußen aus einer plötzlichen Notwendigkeit 
herausgewachsen ist und noch auf keinem Papier steht, wird 
aus Eigenem zugegeben. So ist diese Lehr- und Lernzeit. 
Sie ist nicht leicht: Für die Lernenden nicht und nicht sür 
die Lehrer. Von den Lernenden fordert sie den ganzen Mann. 
Eine restlose Hingabe, die für nichts andres Zeit läßt. Dabei 
blühen wie in einem kurzen Traum, knapp vor dem Aus- 
marsch dorthin, wo zu ewiger Größe oder Stille das Los 
so manch eines fällt, — verfrüht oder verspätet — die wunder¬ 
bar-jungen Eitelkeiten auf, die unlöslich an dem großen 
Stande hängen. Es ist beinah" wie ein Symptom. Wer 
nie Freude gehabt hat an Sporen, Säbel, Portepees und 
Sternen, der war sein Lebtag kein ganzer Soldat... 
Für die Lehrer aber gilt es, vieles anzubauen und manches 
auszujäten, ohne dabei allzu weh zu tun. Dazu gehört 
Milde und Strenge in richtiger Paarung, Takt. Daß unsere 
Offiziere ihn hatten, beweist der Erfolg. Nach einer Aus- 
bildungszeit von ein paar Monaten waren alle Gegensätze weg- 
getilgt. Ein Mosaik von Menschen der verschiedensten Alters- 
stufen, Berufe, Nationalitäten, politischen und dogmatischen 
Glaubensbekenntnisse war innig zu einer unlöslichen Gemein- 
schaft von Kameraden verbunden. Sie alle wollten keinen 
anderen Titel mehr als: österreichifch-ungarifche Soldaten 
heißen, keinen andern Beruf als: österreichisch-ungarische Sol- 
baten S.M. des Kaisers und Königs sein. Und daß die alten 
Traditionen unserer Armee wirklich in ihnen lebten, bewiesen 
ihre Taten. Wo immer sie in die Fußstapfen ihrer gefallenen 
oder verwundeten Vordermänner einsprangen, machten sie 
ihrem Stande keine Unehre. Auch sie kämpften wie die Löwen.
	        
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