Volltext: Die Geschichte des Weltkrieges II. Band (2,1920)

448 Seekrieg 
genommen. Das war die Revanche der Barbaren für 
die B a r a l o n g - Affäre. 
Nachdem bereits am 28. Juni in die Nordsee vorstoßende 
leichte deutsche Streitkräfte den zwischen Rotterdam und 
London verkehrenden britischen Dampfer „Brüssels" ab-- 
gefangen und samt seiner Ladung unter sicherem Geleit nach 
Zeebrügge geschickt hatten, wurde am 5. Juli der aus Liverpool 
kommende britische Dampfer „Lestri s" unweit der eng-- 
tischen Küste durch Teile deutscher Seestreitkräfte als Prise 
aufgebracht. Die Engländer meldeten, es sei ein V-Boot 
gewesen, das den Harwich-Dampfer „Brüssels" verschleppt 
habe, und man verstand leicht, warum die peinliche Nachricht 
von der Londoner Agentur also gefaßt wurde. Ein II-Boot 
kann überall durchschlüpfen und plötzlich auftauchen. Das 
läßt sich nicht verhindern, daran hat man sich seufzend ge-- 
wöhnt. Daß aber — wie es tatsächlich geschehen — ein 
großes deutsches Torpedoboot auf offenem Meere, ein paar 
Kilometer von der Küste Britanniens, ein englisches Schiff 
anhalten und nach einem deutschen Hafen aufbringen konnte, 
das ging über den Spaß und durfte nicht eingestanden 
werden. Der Kapitän der „Brüssels", John Fryatt, 
wurde später auf Grund eines kriegsrechtlichen Erkennt-- 
nisses erschossen, weil er auf das, sein Schiff „Brüssels" 
anhaltende Unterseeboot heimtückisch geschossen hatte, ohne 
in die Streitmacht seines Landes eingereiht zu sein. 
Zur selben Zeit ging dem deutschen Reichstage ein Weiß-- 
buch über die „B a r a l 0 n g"--Affäre zu. Die deutsche 
Regierung hatte in ihrer Erwiderung auf die Erklärungen 
der britischen Regierung zu der deutschen Denkschrift über 
den „Baralong"-Fall vom 10. Jänner 1916 den Stand-- 
punkt eingenommen, daß es für sie im Hinblick auf die 
empörende Haltung der britischen Regierung nicht möglich sei, 
weiter mit ihr über diesen Fall zu verhandeln. Sie kündete 
vielmehr an, daß sie nunmehr selbst die der Herausforderung 
entsprechenden Vergeltungsmaßregeln treffen würde. 
Die britische Regierung hat sich trotz dem ihr mitgeteilten 
Material geweigert, selbst eine Untersuchung einzuleiten. 
Eine Vergeltung der Untaten der britischen Seeleute im 
„Baralong"--Fall mit Maßnahmen gleicher Art, etwa durch 
Erschießen britischer Kriegsgefangener, wurde von deutscher 
Seite selbstverständlich abgelehnt, aberdie deutschen 
Luftschiffe mußten das englische Volk davon überzeugt 
haben, daß Deutschland in der Lage war, die von den 
Offizieren und Mannschaften des „Baralong" begangenen 
Straftaten nicht ungesühnt zu lassen. Wenn früher die 
unvermeidliche Gefährdung der Zivilbevölkerung bei der 
Verwendung der deutschen Zeppeline für militärische Zwecke 
besondere Berücksichtigung gefunden hatte, so konnten 
angesichts des „Baralong"--Mordes solche Rücksichten nicht 
mehr platzgreifen. England gegenüber wurde seitdem die 
Waffe des Luftschiffes innerhalb der Grenzen des Völkern 
rechtes rücksichtslos ausgenützt. Bei jedem Luftschiff, das 
auf London oder auf andere verteidigte oder Anlagen 
militärische« Charakters enthaltenden englischen Städte 
seine zerstörenden Bomben abwarf, sollte England sich des 
„Baralong"--Falles erinnern. 
IlI.Deutschlands Luftkrieg gegen England. 
Von allen Bewohnern Englands, die auf ihre insulare 
Sicherheit pochten und mit dieser rechneten, schienen die 
Citymänner am weitesten entfernt von Kriegsgefahr und 
allem, was daraus folgt, zu sein. Hier schlug das Herz Eng¬ 
1915/16. 
lands, hier lebte im Staate ein Staat, der ganz von seinen 
geschäftlichen Interessen eingenommen war. Und deutschen 
Marineluftschiffen war es nun gelungen, die Schrecken des 
Krieges auch hieher zu tragen und die Sicherheit, deren die 
City so überaus gewiß war, durch einige Bombenwürfe 
gründlich zu zerstören. 
In der Nacht vom 22. auf den 23. Januar war 
Dover zunächst das Ziel des Angriffes deutscher Wasser-- 
flugzeuge. Der erste Angriff, der durch ein einzelnes 
Flugzeug durchgeführt wurde, richtete sich gegeu Dover 
selbst, dessen Bahnhof und Dockanlagen sowie Kasernen 
mit Bomben beworfen wurden. Der zweite Angriff, 
der von zwei Flugzeuge» ausgeführt wurde, dürfte die 
Engländer besonders unangenehm berührt haben. Er richtete 
sich nicht gegen den eigentlichen Kriegshafen, sondern gegen 
die Luftschiffhallen, die sich etwa 5 Kilometer westlich von 
Dover in Hougham befinden. Dem deutschen Bericht 
zufolge wurden starke Brand Wirkungen festgestellt. Da Luft-- 
schiffhallen wegen ihrer großen Ausdehnung notwendiger-- 
weise aus verhältnismäßig leicht brennbarem Material her- 
gestellt sind, ist ein Brand von ganz besonderer Bedeutung, 
da es kaum möglich ist, wirksame Löscharbeiten einzuleiten. 
Zudem dürften in den Hallen Luftschiffe gelegen haben, 
woraus sich auch die starke Brandwirkung erklären läßt. 
In der Nacht vom 31. Jänner zum 1. Februar belegte 
ein großes deutsches Luftschiffgeschwader Dock--, Hafen-- und 
Fabrikanlagen in und um Liverpool und Birkenhead, Eisen- 
werke und Hochöfen von Manchester, Fabriken und Hoch- 
öfen von Nottingham und Sheffield, sowie große Industrie- 
anlagen am Humber und bei Great Aarmouth ausgiebig 
mit Spreng- und Brandbomben. 
Am Humber wurde die Abwehrbatterie zum Schweigen 
gebracht, die Geschütze und die Scheinwerferbatterie zerstört. 
Ferner wurden auf dem Humber der kleine Kreuzer „Caro- 
line" und die Zerstörer „Eden" und „Mith" versenkt. 
Die Luftschiffe wurden von allen Plätzen aus sehr stark 
beschossen, aber nicht getroffen. Sämtliche Luftschiffe sind 
trotz starker Gegenwirkung heil zurückgekehrt. 
Dieser Angriff bildete vermutlich den härtesten Schlag, 
gegen das britische Selbstbewußtsein in diesem Kriege. Nie- 
mals haben die Luftschiffe wichtigeres geleistet, um England 
zu zeigen, was Deutschlands Stärke sei. Manchester, Liver- 
pool, Sheffield, Nottingham und Hull sind die Geburts- 
stätten von Englands Größe — Millionen von Schiffstonnen 
werden in den Häfen aufgenommen und die Docks von 
Liverpool haben eine Ausdehnung wie von Wien nach 
Neunkirchen. In Liverpool ist das mächtigste Dock der Welt, 
sind Vorratshäuser von 14 Stockwerken, Wolkenkratzer für 
Tabak und Getreide, himmelragende Kasernen des Welt- 
Handels. Dort werden die Ozeanungeheuer der Whitestar- 
und Cunardfahrer trockengelegt und ausgebessert. 
Der 4. März brachte dann wieder einmal eine Trauer- 
botfchaft. Das Marineluftschiff „L 19" war von einer Auf- 
klärungsfahrt nicht zurückgekehrt. Die angestellten Nach- 
forfchungen blieben ergebnislos. 
„L 19" war das dritte deutsche Marineluftschiff, das im 
Weltkrieg verloren ging. Anscheinend ist es ebenfalls wid- 
rigem Wetter zum Opfer gefallen, wie die beiden Marine- 
luftschiffe „L 3" und „L 4", die fast genau vor einem Jahr, 
am 18. Februar 1915, durch schweren Südsturm in der Nord- 
see vernichtet wurden. 
Das Luftschiff wurde nach einer Reutermeldung am 
2. Februar von dem in Grimsby beheimateten englischen
	        
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