Volltext: Die Geschichte des Weltkrieges II. Band (2,1920)

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Feldzug gegen Rußland. 
lieferte vor dem Kriege jährlich für rund 40 Millionen Kronen 
Eier nach Deutschland, nach der Schweiz und nach Frankreich. 
Einer besonderen Vorliebe des galijischen Volkes ent- 
spricht sein großer Besitzstand an Pferden. In der Statistik 
des Jahres 191z werden nicht weniger als 905 807 Stück 
ausgewiesen. Und nicht nur der einheimische „Huzule", 
sondern auch arabisches Geblüt wird namentlich in den be-- 
rühmten Gestüten des Staates und der ersten Geschlechter 
des Landes gezüchtet. 
Gegenüber der Landwirtschaft kam der Industrie des 
Königreichs bisher nur geringe Bedeutung zu. Doch schier 
unerschöpflich ist sein Reichtum an Mineralöl. Er wird auf 
z Millionen Meterzentner geschätzt und die Jahresproduktion, 
die einem Werte von 75 Millionen Kronen gleichkommt, 
aber noch um ein Vielfaches steigerungsfähig ist, wurde vor 
dem Kriege nur mehr von jener Nordamerikas und Ruß- 
lands übertroffen. 
Die Salzbergwerke Galiziens waren schon vor einem 
halben Jahrtausend berühmt. Die westgalizischen in Bochnia 
und Wieliczka zählen zu den ältesten Europas und Wieliczka 
ist heute noch das größte Österreichs. Die Jahresproduktion 
an Salz, zu der auch zahlreiche Salzquellen im Westen und 
Osten des Landes beisteuern, belief sich 191z auf mehr als 
1%Millionen Meterzentner im Werte von 20% Millionen 
Kronen. 
Die übrigen Industriezweige Galiziens sind noch ver-- 
hältnismäßig wenig entwickelt. Doch sind die Kohlenberg- 
werke Westgaliziens, deren Vorrat nahezu 25 Millionen 
Tonnen abbauwürdiger, Kohle beträgt, von nicht zu unter- 
schätzender Bedeutung für das Land. 
Die hohe Produktivkraft und die reichen Schätze der gali-- 
zischen Erde haben noch lange nicht den Gipfelpunkt Volks- 
wirtschaftlicher Verwertung erreicht. Allein der Aufschwung 
des galijischen Wirtschaftslebens in den letzten Dezennien, 
der sich Jahr für Jahr freier entfaltete, ließ die große In- 
kunftsbedeutung des Königreiches immer klarer hervortreten. 
Um so unheilvoller erschien das Schicksal des Landes, zu 
einem der Hauptschauplätze des Weltkrieges geworden zu sein. 
Denn einem sich entwickelnden wirtschaftlichen Organismus, 
der seine gesamten Energien für den inneren Aufbau ver- 
braucht, schlagen gewaltsame Störungen tiefere Wunden als 
einem zu voller, auch zur Abwehr gerüsteten Kraft entfalteten. 
Doch diese Erwägung reicht nicht hin, die ganze drückende 
Kriegslast Galiziens auch nur im Entferntesten zu ermessen. 
Und auch dann nicht, wenn die maßlose Heftigkeit der mit 
gigantischen Waffen geführten Kampfhandlungen, die Masse 
an Kämpfern und Kriegsgerät, die örtliche und zeitliche Aus- 
dehnung der Operationen, die feindlichen Requisitionen und 
alle die strategischen Gründe, die namentlich bei Rückzügen zur 
Zerstörung von Stützpunkten, Eisenbahnen, Brücken und 
Wegen führen, mit in die Beurteilung einbezogen werten. In 
diesem ungeheuerlichsten aller Kriege der Weltgeschichte sind 
neben allen jenen zerstörenden Kräften noch solche von den 
Russen wieder zum Leben erweckt worden, die in längst über- 
wnndenen Zeiten auf ewig begraben schienen: die russische 
Zerstörungsstrategie, die dem verfolgenden Gegner eine 
Wüste überläßt, um ihn durch Beraubung aller örtlichen 
Hilfsquellen zu hemmen, und die sinnlose Vernichtungswut 
eines des Sieges sicher gewesenen, aber zum Rückzüge aus 
erobertem Lande gezwungenen Besiegten. 
Von der russischen Zerstörungswut unberührt blieben 
von den 78 497 Quadratkilometern Galiziens nur 4915 im 
Westen des Landes, wo sich die Unsern stets behaupten konn- 
ten. Im Südwesten erlitten 17 840 Quadratkilometer in¬ 
folge von Zwangsrequisitionen und einzelnen Raubzügen 
der feindlichen Truppen sowie durch Demolierung ärarischer 
Gebäude, Zerstörung von Bahnanlagen, Brücken und. Wegen 
zwar empfindlichen Schaden, verfielen aber nicht der völligen 
Verwüstung. 
Grauenhafte Verheerungen erlitt dagegen das gesamte 
übrige Land in einer Ausdehnung, die dem sechsten Teil 
ganz Zisleithauieus gleichkommt. Städte, Marktflecken und 
Dörfer wurden niedergebrannt, Brücken gesprengt, Ver- 
kehrsanlagen und Wege zerstört, der Ackerboden durchwühlt 
und Rasenflächen verwüstet, das Vieh getötet oder davon- 
getrieben, landwirtschaftliche Geräte vernichtet. Wo sich 
die Bevölkerung von den Trümmern ihres einstigen Be- 
sitzes nicht trennen konnte, herrschte bittere Hungersnot, 
der manche zum Opfer fielen. 
Ungefähr 100 Städte und Städtchen und 6000 Dörfer 
erlitten durch diese grausame Art der Kriegführung einen 
Schaden von Milliarden und 250 Dörfer wurden völlig 
verwüstet. 
Mit besonderer Wut hat der Feind in den ostgalizischen 
Bezirken Eieszanüw und Dobromil und in den fruchtbarsten 
und bestgepflegten mittelgalizischen Bezirken Przemysl, 
Jaroslaw, Lancut, Przeworsk, Nisko, Tarnobrzeg, Sanok, 
Krosno, Jaslo, und zum großen Teile auch in den Bezirken 
Bochnia und Wieliczka gehaust. Diese Bezirke, die in ihrer 
Gesamtheit der Bodenfläche Oberösterreichs gleichkommen und 
1127820 Menschen Nahrung geboten haben, erweckten nachdem 
Rückzüge der Russen den Eindruck, als ob sie durch elementare 
Katastrophen in trostlose Wildnisse verwandelt worden 
wären. Keine Menschenseele, keine Arrsiedlung, ja kein auf- 
recht stehendes Gebäude und keine Spur friedlichen Acker- 
baues, eines Weges oder Steges war hier mehr ;n entdecken 
und an Stelle des weidenden Viehs irrten verwilderte Hunde 
umher. Selbst in den schonungslosen Zeiten des Dreißig- 
jährigen Krieges hätte nicht gründlichere Zerstörungsarbeit 
verrichtet werden können. 
Zusammenfassend kann man sagen, daß bloß 6,3Prozent 
der Gesamtfläche Galiziens von dem Kriege verschont geblieben 
sind. 23Prozent wurden nur so weit geschädigt, als Zerstör- 
nngen im Kriege unvermeidlich sind. 70,7 Prozent fielen der 
russischen Zerstörungswut zum Opfer und davon wurden 
iZ Prozent buchstäblich dem Erdboden gleichgemacht. 
Trotz diesen ungeheuren Verwüstungen konnte der Sieges- 
zug unserer Galizien befreienden Truppen nirgends auf- 
gehalten werden. 
Nur in einer Zeit, in der die verhältnismäßig geringe 
Zahl der im Felde stehenden Truppen es möglich und die 
mangelhafte Technik des Nachschubwesens es notwendig 
machte, daß das Kampfgebiet die Kämpfer wenigstens zum 
großen Teil ernährte, konnte die Verwüstungsstrategie, so 
barbarisch sie unter allen Umständen ist, doch einen ver- 
nünftigen Sinn haben. Daß die Spanier in den Kämpfen 
der Jahre 1808—1815 durch Devastierung ihres eigenen 
Landes den Vormarsch der Truppen Napoleons l. auf- 
zuhalten vermochten, war aber schon damals nur im Bunde 
mit den den Nachschub aufs äußerste erschwerenden Terrain- 
Verhältnissen möglich. In Rußland dagegen, wo das Terrain 
geringere Schwierigkeiten bot, war der Rückzug Napoleons I. 
im Jahre 1812 nicht, wie die Russen trotz historischen Be- 
richtigungen noch heute zu glauben scheinen, die Folge der 
Verwüstungen, die sie vor der in ihr Land eindringenden 
„Großen Armee" angerichtet hatten, sondern die Folge der
	        
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