Volltext: Die Geschichte des Weltkrieges II. Band (2,1920)

Der Sommerfeldzug in Russisch-Polen 1915. 
105 
ston war losgelöst und sicherte den Nordflügel der Ver¬ 
bündeten zwischen der Radomka und der Pilica. 
GO> v. W 0 yrsch versammelte hingegen seine gesamten 
Kräfte weichselabwärts beiderseits der Radomka. 
Schlacht bei Cholm und Lublin. 
Eroberung von Jwangorod. 
(24. Juli bis 4. August.) 
GFM. v. Mackensen hielt für die Fortführung 
der Offensive an dem Gedanken fest, den Hauptstoß gegen 
die Mitte der feinlichen Front, die Linie Cholm—Lublin 
zu führen. Hiebei hatte die Bugarmee durch Vorgehen auf 
Cholm mitzuwirken, die deutsche gegen Viskupice vor¬ 
zustoßen, die k. u. k. 4. gegen Lublin. 
Für den Stoß gegen Biskupice hatte er 3% Korps mit 
einer Anzahl Mörser und schweren Haubitzenbatterien unter 
einheitlichem Kommando westlich des Wieprz, Erzherzog 
Joseph Ferdinand-! Korps, 3 Infanteriedivisionen 
und 1 Kavalleriedivision östlich der Bystrzyca angesetzt. 
Am 29. Juli erfolgte der gemeinsame gewaltige Vorstoß. 
Es war der Tag, an dem GO. v. W 0 y r f ch jenseits 
des Weichselstromes zwischen Kobylnica und Tarnow das 
östlicheWeichseluseran5Stellenkämpsend 
in Besitz nahm. 
In diesen Tagen war es, wo die Italiener am Jsonzo 
eine neue Macht aufboten und mit ihr den Wall der 
todesmutigen Verteidiger in der zweiten Jsonzoschlacht ver-- 
geblich anrannten. 
Die Kunde von dieser fernen Hilfe, der einzigen, deren 
sich Rußland seitens der Alliierten in seiner schwersten Zeit 
erfreuen konnte, wurde geflissentlich in seine vordersten 
Kampflinien getragen und löste dort Jubel und frohe Lieder, 
eine andere, Wendungen späterer Zeiten um vieles voraus- 
eilend, die Rufe „Hoch Rumänien" aus. 
Das künstlich hervorgerufene Frohlocken der Russen 
erfuhr ein jähes Cnde. 
Schon die Zerstörungen allen eigenen Gutes von Wert 
und Bedeutung, das Niederbrennen kostbarer Vorräte und 
des Getreides auf den Feldern waren Maßnahmen, deren 
Endzweck dem russischen Soldaten längst geläufig war. 
Gingen sie aber bisher der Räumung von Gebieten voran, 
deren Preisgabe leichteren Herzens erfolgte, so handelte es 
sich jetzt um Juwelen in der Zarenkrone von höchstem Werte. 
An ihrer stärksten Stelle von Mackensen und Erz-- 
herzog Joseph Ferdinand^) mit unwiderstehlicher 
Entschiedenheit angepackt, der bisherigen Sicherheit in der 
westlichen Flanke und der Aussicht, vom Bug her rettend 
eingreifen zu können, beraubt, wichen die Russen in der 
Nacht zum 30. Juli vor der Bug--, u. und k. u. k. 4. Armee. 
Bald nach Mittag des 30. ritt Kavallerie 
des Erzherzog Joseph Ferdinand in 
Lublin ein und am Abend dieses Tages 
war die Bahnlinie Jwangorod — Lnb- 
lin — Cholm in der ganzen Strecke von 
Konskawola bis Rejowiec von den Ver-- 
bündeten überschritten. 
Ihrer Fortsetzung nach Warschau näherte sich v. W 0 y r s ch 
sicheren Schrittes. Nur Tage noch und Jwangorod, jetzt 
*) Die Hauptangriffsgruppe des Erzherzogs hat die mit sieben- 
fachen Drahthindernissen umgebene Stellung nördlich Chniel nach 
fünfmaligem Sturme genommen. 
schon von Lublin abgeschnitten, hat auch seine Verbindung 
mit Warschau eingebüßt. 
Nun war es an der Zeit, daß die russische Heeresleitung 
daran schritt, ihr Unvermögen, gegenüber der lückenlosen 
Kraftentfaltung der Verbündeten, die ihren Feind straff 
umspannt hielten, noch eine entscheidende Wendung zu ihren 
Gunsten herbeizuführen, zu bemänteln. Das Pfand, um 
dessen Rettung es sich jetzt handelte, Jwangorod, der wich-- 
tigste Stützpunkt zur Weichselbeherrschung, wäre den Einsatz 
großer Kräfte an irgend einer Durchbruchsstelle wert. Daß 
er nirgends erfolgte, spricht deutlich, wie alle feindlichen 
Kräfte gebunden und alle Reserven aufgebraucht waren. 
Die Welt erfuhr jedoch, daß allem Tun und Lassen der 
Russen ein vorgefaßter Plan zugrunde lag, daß die Hundert-- 
taufende an Soldatenopfern, Millionen und Abermillionen 
materiellen Werte nur preisgegeben wurden, um diesem 
Plane nachzujagen! 
Der neue Kriegsminister Poliwanoss verkündete 
es der Reichsduma, der „Rußki Invalid" erläuterte den Ideen- 
gang des Ministers *) und Ministerpräsident G 0 remykin 
*)Der „Rußki Invalid" schrieb: 
Vor dem Kriege war Rußland darauf gefaßt, daß Österreich und 
Deutschland dank ihrer schnellen Mobilisation und allen ihren tech- 
nischen Hilfsmitteln sich vor allem auf Rußland stürzen würden, um 
den feindlichen Plan zu vereiteln. Es wurde im Jahre 1910 beschlossen, 
daß das in das deutsche Gebiet vorspringende russische Gebietsstück 
mit seinen befestigten Plätzen westlich von Brest-Litowsk nicht besetzt 
und daher auch nicht in Kriegszustand versetzt werden solle. Man 
wählte für die russische Konzentration die Gegend weiter östlich, das 
heißt im Norden den mittleren Njemen, dann die Festungen Kowno 
und Grodno, weiterhin das in dieser Absicht befestigte Bjelostock, und 
schließlich den Lauf des Bug und die Südwestgrenze. Diese Linie wurde 
als eine große Verteidigungslinie gegen die deutsche Armee angesehen, 
falls diese, mächtig organisiert und mit reichen technischen Mitteln 
versehen, sich auf Rußland stürzen sollte. Dies ist annähernd die gegen- 
wärtige Lage, und es ist begreiflicherweise gefährlich, sich unter Bei- 
Messung einer übertriebenen Bedeutung an die Weichsel und den 
Narew mit ihren Städten und Festungen anzuklammern. Es ist 
vorteilhafter, die kostbare Tiefe des russischen Kriegsschauplatzes zu 
benutzen, um die deutschen Streitkräfte von ihrer 
Basis abzuziehen und sie zu zwingen, sich in 
jeder Beziehung zu erschöpfen. Um dieses Ziel zu er- 
reichen, muß man im Voraus diesen Kriegsschauplatz opfern. Die 
Märsche, Kämpfe und Entbehrungen müssen den Feind entkräften. 
Seit drei Monaten führt die russische Armee 
diesen Plan aus. Es ist bereits offensichtlich, daß die moralische 
Kraft der deutschen Armee schwächer wird, und die Gefangenen be- 
stätigen diese Abschwächuug, die auch physischer Natur ist. Der Krieg 
wird entschieden werden durch den Kampf der Armeen, unabhängig 
von dem Orte, wo dieser Kampf geliefert wird. Unser Rückzug 
aber verspricht uns den Sieg, denn unsere 
Kräfte beginnen erst sich zu entwickeln. Die Zu- 
kunft verspricht uns Überfluß an Kriegsmunition dank der mobili- 
sierten Landesindustrie und den Bestellungen im Auslande, während 
der Feind gegenwärtig in dieser Beziehung in günstiger Lage ist. 
Ein Rückblick zeigt, daß, als die Deutschen zu Beginn des Krieges 
ihre ganze Masse auf die Franzosen ergossen, dieser Anprall für uns 
auf unserem vorgeschobenen Kriegsschauplatze glückliche Erfolge nach 
sich zog, besonders den Zusammenbruch der Österreicher in Galizien. 
Wenn wir daher nach einem Kriegsjahr die Karte der russischen 
Front betrachten, so sehen wir für die lebendigen Kräfte die Not- 
wendigkeit, auf einer näher gelegenen Grundlinie für den Aufmarsch 
zu manövrieren. In diesem Augenblicke haben wir gegen uns fast 
die gesamte deutsche Kavallerie, fast die ganze österreichische Armee 
und über die Hälfte der gesamten deutschen Streitkräfte: 70Divi¬ 
sionen. Die feindliche Artillerie ist zahlreich und bedeutend durch ihr 
Kaliber. Die russische Armee leistet heldenhaften Widerstand, nicht
	        
Waiting...

Nutzerhinweis

Sehr geehrte Benutzerin, sehr geehrter Benutzer,

aufgrund der aktuellen Entwicklungen in der Webtechnologie, die im Goobi viewer verwendet wird, unterstützt die Software den von Ihnen verwendeten Browser nicht mehr.

Bitte benutzen Sie einen der folgenden Browser, um diese Seite korrekt darstellen zu können.

Vielen Dank für Ihr Verständnis.