§ 6y. Talmudismus und Antitalmudismus
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§ 6y. Talmudismus und Antitalmudismus.
Es ist bereits in anderem Zusammenhang darauf hingewiesen
worden, wie sehr der Zusammenschluß der völkerreichen, auf drei
Kontinente verteilten Riesengebiete zu einem einheitlichen Bereich
islamitischer Kultur der Konzentration der orientalischen Diaspora
und der Ausbreitung des Talmudismus zugute kam. Die Rechtsnor
men und Regeln der religiösen Lebensführung, die von den Gaonen
und Akademien Babyloniens ausgearbeitet worden waren, galten in
dieser Periode, die wohl mit Recht als die dynamische Periode des
Talmudismus bezeichnet werden kann, selbst in den entferntesten
Zentren des Judentums als maßgeblich. In der Regel waren es die
aus den verschiedenen Gemeinden einlaufenden Anfragen, die den
Anstoß zu der Gesetzgebungsarbeit der gaonäischen Zeit gaben. Da
neben pflegten aber die babylonischen Gelehrten angesichts der
Schwierigkeiten, die die Interpretation der im Talmud enthaltenen
Lehrmeinungen bot, diese auch aus eigenem Antrieb in einer über
sichtlichen Ordnung zusammenzustellen. Einen der ersten Versuche
einer solchen Kodifikation des talmudischen Stoffes unternahm um
die Mitte des 8. Jahrhunderts der aus Pumbadita nach Palästina aus-
gewanderte Gelehrte Achai von Schabcha, der in seinem »Fragen«
(Scheeloth) betitelten Werk die Sätze der Halacha wie der Aggada
in der Reihenfolge der Pentateuch-Abschnitte anordnete. Dieses
Sammelwerk, das Rechtsprobleme und sittliche Belehrungen zu einer
Einheit verbindet, soll der Überlieferung zufolge dadurch veranlaßt
worden sein, daß Rabbi Achai den Lehrstoff des Talmud, aus dem
positive Gesetzesbestimmungen so schwer hergeleitet werden können,
seinem eigenen Sohne habe näher bringen wollen. In Babylonien
nahm man das Kodifikationswerk auf direkterem Wege in Angriff.
Es entstanden dort kurzgefaßte, angeblich auf den Gaon von Sura
Jehudai (um 760) und einen Gelehrten aus späterer Zeit, Simon
Kajare, zurückgehende Kompendien, die von mehreren Gelehrten
generationen immer aufs neue rezensiert und erweitert wurden. Das
Ergebnis dieser kollektiven Arbeit ist das uns in zwei Rezensionen
erhalten gebliebene Sammelwerk »Die großen Halachoth«. Indessen
blieb die in Babylonien eingeleitete kodifikatorische Arbeit in den
Anfängen stecken, weil die gestrengen Hüter der Tradition das Be
streben, dem Talmud durch ein zugänglicheres Werk zu ersetzen, als
eine »Schmälerung des Bereiches der Wissenschaft« ansahen. Die
Gaonen der folgenden Jahrhunderte, wie etwa Saadia, Hai oder die