Volltext: Die orientalische Periode in der Geschichte des jüdischen Volkes (1 ; 1937)

§ 3$. Das innere Leben in Judäa und in der Diaspora 
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Die Verbindung zwischen beiden bildete eine lebendige Kette 
von mündlichen Traditionen, die sich mit der Zeit, aus dem unver 
siegbaren Quell der Gelehrteninterpretation und der Volksbräuche 
gespeist, in unverbrüchliche »Überlieferungen der Altvordern« ver 
wandelten. Da nun die in ununterbrochener Entwicklung begrif 
fene mündliche Lehre dem Wachstum der Begriffswelt und der Be 
dürfnisse des Volkes vollauf Rechnung trug, wurde dieses in fast 
unmerklicher Weise in den Bann der religiösen Zucht gezogen. So 
wurde der »Zaun um die Thora«, der das Volksleben wie eine 
schützende Hecke umschloß, immer undurchdringlicher. Es ist nicht 
mehr möglich, genau festzustellen, welche gesetzgeberischen Neuerun 
gen gerade der hier geschilderten Epoche ihr Entstehen verdanken; 
aus einzelnen geschichtlichen Episoden ist jedoch zu schließen, daß 
die Pharisäer schon im ersten Jahrhundert ihrer Wirksamkeit das 
bürgerliche und religiöse Leben Judäas durch eine Fülle von Ge 
setzen, Riten und Bräuchen, deren Hauptzweck die religiös-nationale 
Absonderung war, bereicherten. Insbesondere strebten sie, wie be 
reits erwähnt, eine Milderung des althergebrachten Strafrechts an, 
wobei ihnen vor allem daran lag, die Todesstrafe durch minder 
grausame Strafarten zu ersetzen. Überhaupt gingen sie darauf aus, 
das Gesetz den sich ständig verfeinernden Rechtsbegriffen des Volkes 
anzupassen, und dies war der Grund, weshalb das Volk ihnen eher 
Folge leistete als den Sadduzäern. 
Am deutlichsten offenbarte sich das Verständnis der Pharisäer 
für die Regungen der Volksseele auf dem Gebiete der dogmatischen 
Glaubensfragen. Sie begriffen, daß die religiöse Weltanschauung ohne 
den Glauben an die persönliche Unsterblichkeit und an die Vergel 
tung im Jenseits im Volke keine festen Wurzeln fassen könne. Die 
rationalistisch angehauchte biblische Idee von der Unsterblichkeit 
des Geschlechts oder der kollektiven Unsterblichkeit vermochte das 
religiöse Bedürfnis des einfachen Mannes nicht zu befriedigen. Die 
Notwendigkeit, die Idee der in der Weltordnung waltenden Gerech 
tigkeit mit der empirischen Wirklichkeit in Einklang zu bringen, 
führte unaufhaltsam dazu, daß der Glaube an das Leben nach dem 
Tode sich im Volke immer mehr ausbreitete. War es doch dieser 
Glaube allein, der der quälenden Frage, warum es den Gottlosen 
wohlergehe, während der Gerechte leiden müsse, die Bitterkeit nahm. 
In der klaren Erkenntnis der Tragweite des Unsterblichkeitsdogmas 
sowohl in seiner philosophischen Form (Unsterblichkeit der Seele) 
als auch in seiner mehr mystischen Prägung (Totenauferstehung,
	        
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