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Die materielle und geistige Kultur in der Periode der Reichstrennung
§ 14. Religion und Kultus. Der Prophetismus
Wie in allen Religionen des Altertums, stand auch in der Reli
gion der alten Israeliten nicht das Dogma, sondern der Kultus an
erster Stelle. Die israelitische Volksreligion war auch noch in der
Zeit der Reichstrennung nicht frei von heidnischen Elementen. Neben
den offiziell anerkannten Tempeln behaupteten sich nach wie vor
zahlreiche andere, den Streitern Jahves als anstößig geltende Kult
stätten. »Die Bamoth (Anhöhen) waren noch nicht verschwunden,
das Volk opferte und räucherte auf den Bamoth« (II. Könige 12,4).
Auf irgend einer Anhöhe, im Schatten einer Eiche oder Palme, erhob
sich vor dem Standbild einer der alten kanaanitischen Gottheiten
(oben, § 5) ein Altar, auf dem Tieropfer dargebracht und um den
herum zuweilen Orgien zu Ehren der Göttin der Fruchtbarkeit,
Astarte, gefeiert wurden. Aber auch mancher Tempel im Reiche
Israel barg ein Standbild Jahves in Stiergestalt. Erst nach hart
näckigem Kampf wurde dort der Baalkult von dem Jahvekult end
gültig verdrängt.
Die Hauptform des Gottesdienstes war die Opferdarbringung,
durch die die Gottheit günstig gestimmt werden sollte. Außer Tier
opfern wurden auf den Tempelaltären auch Trankopfer, Weih-Öl
und Wein dargebracht. Die Opfermahle zeichneten sich namentlich
an den Tagen der drei großen Jahresfeste durch große Feierlichkeit
aus. »Dreimal im Jahre — so lautete das Gesetz — soll alles, was
männlich ist bei dir, vor dem Herrn Jahve (im Tempel) erscheinen.
Und man soll nicht mit leeren Händen vor mir erscheinen« (Exodus
23, 17 u. 15). Am Passahfest wurde zum Fleisch der Opfertiere
ungesäuertes Brot (»Mazzoth«) genossen, ein Symbol des im Früh
jahr reifenden Getreides; an dem sieben Wochen nach Passah ge
feierten »Wochen«- oder »Schabuoth«-Fest brachte das Volk die
Ernteerstlinge (»Bikkurim«) in den Tempel, und an den Tagen des
»Laubhüttenfestes« (»Sukkoth«) kam man zum Gottesdienst mit
Baumfrüchten und Palmenzweigen in den Händen. Zu den Fest
mahlen wurden Arme, Witwen und Waisen eingeladen, und »alle
waren fröhlich vor Jahve« (Deuteronomium 16,11). Die den Opfer
dienst versehenden Priester (»Kohanim«) erhielten einen Teil der
Opfergaben und wurden überdies von den Laien mit ländlichen
Erzeugnissen beschenkt. Die judäischen Priester, deren Würde erblich
war, führten ihren Stammbaum auf Aaron, den Bruder Moses 5 , aus
dem Stamme Levi zurück. Im Reiche Israel gab es hingegen seit der